In ganz Europa hielten Menschen den Atem an, als das Dach der Pariser Kathedrale Notre-Dame in Flammen stand. Angesichts der massiven Beschädigung eines Weltkulturerbes verspürten viele Menschen das Bedürfnis, in sozialen Medien ihre Trauer und Anteilnahme auszudrücken. Eine Art der Verarbeitung, die laut dem französischen Soziologen Émile Durkheim zu höherer Solidarität in einer Gemeinschaft führen kann.

Bei den Terroranschlägen in Paris 2015 haben sich viele Twitter-Nutzer an der Diskussion beteiligt – ein Datenfundus für die Sozialforschung, um kollektive Emotionen zu analysieren.
Foto: APA / AFP / Bertrand Guay

Besonders die Schnittstelle zu sozialen Medien interessiert den Informatiker David Garcia vom Wiener Complexity Science Hub. Seit seiner Doktorarbeit an der ETH Zürich erforscht der 33-Jährige kollektive Emotionen, welche allerdings mittels der klassischen Methoden der Sozialforschung schwierig zu erheben sind. Schließlich lassen sie sich kaum künstlich in einem Experiment produzieren, und in Befragungen kann nur der aktuelle Eindruck einer Person eingeholt werden.

Gemeinsam mit dem emeritierten Psychologieprofessor Bernard Rimé von der Katholischen Universität Louvain (Belgien) publizierte Garcia eine Arbeit, die Durkheims Theorie erstmals mit großen Datenmengen testete. Anlässlich der Pariser Terroranschläge im November 2015 analysierte er Schlagwörter auf den Profilen von mehr als 62.000 französischen Twitter-Nutzern, die sich mit Hashtags wie #JeSuisParis an der öffentlichen Diskussion beteiligten.

Die Prämisse lautet: Das Teilen einer kollektiven Emotion kann auch dann zu synchronen Gedanken und Tätigkeiten führen, wenn die Beteiligten physisch voneinander getrennt sind und nur digital kommunizieren.

Dafür wendeten die Forscher eine etablierte Methode der Textanalyse an. Sie maßen die Frequenz, mit der im Verlauf der Zeit bestimmte Begriffskategorien – etwa positive oder negative Emotionen – in den Tweets der Nutzer verwendet wurden. Auch ein statistisches Modell der individuellen Ausdrucksweisen wurde erstellt, auf Basis von Tweets vor den Anschlägen.

Personen, die kurz nach den Attentaten häufiger emotionale Begriffe und Solidaritätsbekundungen verwendeten, erlebten demnach eine kollektive Emotion. Auch drei Monate nach den Anschlägen behielten sie diese Ausdrucksweise bei, im Gegensatz zu anderen Personen. Laut der Theorie kann dies das persönliche und kollektive Selbstbewusstsein stärken und sich vielfältig positiv auswirken – etwa auf die Fähigkeit, sich als Gesellschaft nach einem traumatischen Erlebnis wiederherzustellen.

STANDARD: Welcher Unterschied besteht zwischen dem individuellen und dem kollektiven Erfahren von Emotionen?

David Garcia: Wenn eine Einzelperson in den Nachrichten erfährt, dass 300 Menschen bei einem Anschlag getötet wurden, sind ihre Emotionen teils sehr stark, ebben aber auch relativ schnell wieder ab. Wenn mehrere Menschen zusammengebracht werden und miteinander interagieren, sehen wir, dass die Reaktionen der einen Person immer wieder neue Reaktionen bei anderen hervorrufen. Die Emotion wird zu etwas Kollektivem und hält in der Gruppe viel länger an, sogar mehrere Wochen.

STANDARD: Wie hat sich die Zusammenarbeit von Ihnen als Informatiker mit dem Psychologen Rimé gestaltet?

Garcia: Wir haben die Studie jahrelang geplant, was oft nötig ist, wenn man aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenarbeitet. Anfangs war ich der verrückte junge Computerwissenschafter, der mit großen Datenmengen, aber auch neuen Methoden wie maschinelles Lernen jonglieren wollte. Mein Kollege hat mich ein wenig zurückhalten müssen. Er fand die neuen Möglichkeiten zwar cool, hat mich aber davon überzeugt, dass eine einfachere, in den Sozialwissenschaften anerkannte Methode wie die Textanalyse für den Anfang wertvoller sein kann. Es soll eine Vorzeigearbeit und für alle Psychologen zugänglich sein, nicht nur für Sozialpsychologie- oder Sprachspezialisten.

STANDARD: Wie sieht die klassische Sozialforschung Ihre Arbeit?

Garcia: Es gibt generell eine Spaltung zwischen denjenigen, die neuen Ansätzen gegenüber offen sind, und jenen, die befürchten, dass wir damit die alten Vorgehensweisen ersetzen wollen. Wir möchten keinen Ersatz liefern, sondern aufzeigen, was wir mit anderen Methoden bisher nicht erforschen konnten. Wir brauchen neue mathematische Modelle, um die kollektive Ebene des Verhaltens – im Zusammenspiel mit der gut erforschten individuellen Ebene – zu verstehen und konsistent erklären zu können.

STANDARD: Im Anschluss an die diesjährigen Bombenanschläge in Sri Lanka wurden dort vonseiten des Staates immer wieder verschiedene soziale Medien und Messaging-Dienste blockiert. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?

Garcia: Es ist nachvollziehbar, dass Staaten in großer Ungewissheit vermeiden wollen, dass durch die Verbreitung von Gerüchten Gewalt eskaliert. Allerdings denke ich, dass eine solche Blockade dies nicht effektiv verhindert. Kommunikationsblockaden können noch mehr Ungewissheit schaffen und dazu führen, dass sich Falschinformationen schneller über andere Kanäle wie SMS oder Anrufe verbreiten.

STANDARD: Wäre dies auch in Europa vorstellbar?

Garcia: Hier ist das Potenzial dafür, dass Gerüchte in einer angespannten Situation zu körperlicher Gewalt führen, wesentlich geringer. Trotzdem könnten manche Politiker solche Plattformen in einem nationalen Ausnahmezustand blockieren wollen. Die Rechtfertigung wäre aber viel schwächer.

STANDARD: Eines Ihrer Anliegen ist Datenschutz. Sie beschäftigen sich etwa mit Schattenprofilen – also mit Profilen von Personen, die selbst nicht in einem sozialen Netzwerk angemeldet sind, über die aber dennoch Informationen gesammelt werden können durch das, was ihre Freunde veröffentlichen. Welche Probleme gibt es dabei?

Garcia: Die Frage ist, ob solche Profile von großen Plattformen wie Facebook erstellt werden. Im Rahmen des Möglichen sind sie allemal, wie wir und andere Forschungsgruppen etwa durch Netzwerkanalysen feststellen konnten. Wenn man in einem Dorf lebt und quasi die einzige Person ist, die nicht angemeldet ist und der Datenverwertung zugestimmt hat, weiß eine Plattform trotzdem alles: wer zu deiner Familie gehört, wo du wohnst, Dinge wie deine sexuelle Orientierung, Religion, Status. Daher kann man bei Privatsphäre nicht mehr nur von einem Vertrag zwischen einer Person und einem Unternehmen sprechen. Die Entscheidung ist keine individuelle, sondern eine kollektive. Daher sollten wir die Privatsphäre kollektiv regulieren.

STANDARD: Was bedeutet das?

Garcia: Eine Möglichkeit wären Institutionen, die Nutzer gruppieren und gegenüber Firmen besser vor Datenmissbrauch schützen. Es gibt bereits Kollektive wie My Data in Finnland und der Schweiz. Da geht es vor allem um gesundheitsbezogene Daten, die Menschen stimmen ab, ob sie die Daten etwa mit Versicherungs- oder Pharmafirmen teilen wollen oder nicht, ob anonymisiert oder nicht. Es ist keine perfekte Lösung, aber sie hat Potenzial und wäre nichtstaatlich. (Julia Sica, 6.6.2019)