Wenn künstliche Intelligenz und das daraus lukrierte Wissen monopolisiert werden, könnte dadurch das solidarische Gesundheitssystem gefährdet werden, sagt Bart de Witte.

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STANDARD: Wenn es um medizinische Forschung geht, werden derzeit die größten Hoffnungen in die künstliche Intelligenz (KI) gesetzt. Das menschliche Genom lässt sich in Datenform darstellen, Bilder aus CTs werden als Daten dargestellt, Algorithmen finden Muster, die auf Krankheiten hinweisen. Wie sehen Sie die Zukunft?

De Witte: Wir stehen vor einer wirklich großen Revolution. Es ist realistisch, dass in zehn Jahren die künstliche Intelligenz die ärztliche Expertise in bestimmten Bereichen übertreffen wird. Ein Computer wird besser als ein Menschen Diagnosen stellen. Der Vorteil wäre, dass Patienten überall in Österreich auf einem selben Niveau beurteilt würden. Auf dem Land genau gleich wie in der Stadt.

STANDARD: Okay, da geht es um die Versorgung. Was bringt die Digitalisierung auf einer ganz körperlichen Ebene?

De Witte: Ich glaube auch, dass wir den Körper und seine inneren Verbindungen immer besser verstehen werden. Die Medizin wird deshalb auch Krankheiten vorhersagen können. Und weil wir verstehen, wie Krankheiten entstehen, werden wir auch viel früher als heute gegensteuern können. Dies bietet ein noch nie dagewesenes Potenzial. Es kann sein, dass gewisse Arten von Krebs gar nicht erst entstehen.

STANDARD: Wer solche Schlüsselstellen des Körpers entdeckt und eine Gegenstrategie findet, wird auch viel Geld verdienen. Technologieunternehmen drängen gerade in den Bereich der Medizin. Gesundheit gilt als zukunftsträchtiges Business. Finden Sie das gut?

De Witte: Ich bin Technologie-Optimist und von der sozialen Marktwirtschaft überzeugt. Ein wichtiges Element dabei ist der freie und offene Zugang zu digitalem medizinischem Wissen, das zukünftig durch Daten und Algorithmen generiert wird. Die aktuellen Entwicklungen deuten aber stark darauf hin, dass es gerade zu einer Privatisierung von Daten und Wissen im Bereich der digitalisierten Medizin kommt. Es ist Wissen, das dann bestimmten Firmen gehört – und insofern auch nicht mehr öffentlich zugänglich ist.

STANDARD: Wo ist der Fehler?

De Witte: Wir verabsäumen, uns die Frage zu stellen, wem die Zukunft gehören soll: Einzelnen Firmen oder einer Mehrheit von Menschen? Derzeit ist es so, dass die großen Fortschritte in Weltregionen gemacht werden, in denen andere Wertesysteme gelten, wenn es um gesundheitliche Fragen geht. Was uns in Europa fehlt, ist digitale Bildung.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

De Witte: Wir stehen an einem Scheideweg. Entweder wir werden die dämlichste Generation, die es seit der Erfindung des Buchdrucks gab, weil wir den öffentlichen Zugang zu Wissen umkehren und ihn einigen wenigen Firmen überlassen. Oder wir schaffen es, die neuen digitalen Möglichkeiten in der Medizin als eine Superkraft zu nutzen – und zwar eine Superkraft der menschlichen Zusammenarbeit, der gemeinsamen Werte.

STANDARD: Welche Werte?

De Witte: Wir müssen ethische Standards definieren, damit wir das Recht auf Gesundheit für alle Bürger schützen und in Zukunft gewährleisten können. Künstliche Intelligenz in der Medizin kann die Grundlage sein, um die Ungleichheit zwischen den Menschen zu verringern.

STANDARD: Wie könnte das umgesetzt werden?

De Witte: Künstliche Intelligenz ermöglicht es, Expertenwissen jedem und überall zur Verfügung zu stellen. Mehr als ein Smartphone braucht man nicht, um Expertenwissen auch in ländlichen Gebieten zur Verfügung zu stellen. Die fehlende medizinische Versorgung auf dem Land ist ja ein sehr aktuelles Problem – und zwar global, in Europa genauso wie in Afrika. Künstliche Intelligenz ermöglicht es, in naher Zukunft für wenig Geld Zugang zu Spezialisten zu bekommen. Wenn künstliche Intelligenz und das daraus lukrierte Wissen aber monopolisiert werden und auf diese Weise nur einer einzelnen Firma zur Verfügung stehen, wird das nicht möglich sein – denn diese Firma würde dann mit diesem exklusiven Wissen Kapital machen wollen. Die großen Unternehmen sind fast alle ihren Shareholdern und damit dem Gewinn verpflichtet. Wissen, gerade in diesem Bereich, sollte immer offen sein und uns befreien, nicht unterdrücken. Das möchte ich mit der Gründung meiner Stiftung ändern.

STANDARD: Was würde passieren, wenn man den Dingen, so wie sie jetzt passieren, freien Lauf lässt?

De Witte: Denken Sie an Suchmaschinen. Da hat Google einen Marktanteil von 92 Prozent. Das ist eine Firma, die massiv auf KI setzt und jetzt schon mehr über die User weiß als diese über sich selbst – und deshalb praktisch auch alles bestimmt. Auch Facebook ist ein fantastisches Beispiel. Die ganze Welt liegt in der Hand von ein paar Konzernen. Das sollte im Bereich der Medizin keinesfalls passieren.

STANDARD: Was soll sich also konkret verändern?

De Witte: Wir sollten aus den Entwicklungen, die im Bereich der Software in den vergangenen 30 Jahren passiert sind, lernen. Ein gutes Konzept ist Open Source, also der frei zugängliche Quellcode. Das ließe sich auch im Bereich der künstlichen Intelligenz für medizinisches Wissen umsetzen. Dass das Vorteile hat, sehen wir. Es gibt praktisch keine Software mehr, die nicht auch auf Open Source aufbaut. Dieses Prinzip der Zusammenarbeit ist zudem überaus effizient und hat in der Technologie zu vielen neuen Produkten geführt.

STANDARD: Und wie wäre das organisiert?

De Witte: Durch Open-Source-Vereinigungen, die als Stiftungen aufgesetzt sind. Wir brauchen für die auf künstlicher Intelligenz basierenden Entwicklungen in der Medizin eine Organisation, die auf offenem Wissen aufbaut und die Zusammenarbeit zwischen Industrie und der öffentlichen Hand fördert. Das würde die Entstehung von Monopolen verhindern.

STANDARD: Wäre das eine Initiative gegen die Privatwirtschaft?

De Witte: Nein, selbst wenn ich mit einer Open-Source-Initiative erfolgreich bin, würde sie mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten. Das, was sich ändern muss, ist das Fundament, das weiterhin auf altruistischen Prinzipien aufbauen muss.

STANDARD: Wie soll das praktisch funktionieren?

De Witte: Medizinische Daten und Erkenntnisse sollten ein öffentliches Gut sein. Jede Organisation, sei es öffentlich oder privat, aber auch Einzelpersonen, Forscher und Entwickler sollten Zugang zu medizinischen KI-Daten haben. Open-Source-Bewegungen fördern die globale Zusammenarbeit, beschleunigen Innovation und würden Standards setzen, die weltweit gelten.

STANDARD: Was wäre, wenn das nicht passiert?

De Witte: Eine Entwicklung wie in der Pharmaindustrie zum Beispiel. Da klettern gerade die Preise für ein paar neue Medikamente ins Unendliche. Die Hersteller sagen dann zwar immer, dass das alles Forschungs- und Entwicklungskosten sind, nur stimmt das nicht immer so, oft müssen sehr teure Firmenübernahmen, die in diesem Bereich heute üblich sind, finanziert werden. Jedenfalls kommen derzeit gerade Medikamente auf den Markt, die unmöglich für eine breite Bevölkerungsgruppe zur Verfügung stehen werden.

STANDARD: Was bedeutet das?

De Witte: Dass das System der solidarisch finanzierten Gesundheitssysteme gefährdet ist. Das Gute in Europa ist ja, dass jeder Mensch Anspruch auf die bestmögliche medizinische Versorgung hat und das ein Grundrecht ist. In den USA ist das Gesundheitssystem in allen Bereichen marktwirtschaftlich organisiert. Da haben 27 Millionen gar keine Versicherung. Wenn wir das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem behalten wollen, brauchen wir bei der Entwicklung von digitalen Lösungen ein neues Fundament, das auf den gleichen, wie von Hippokrates definierten Prinzipien aufbaut. Er hat damals den Grundstein für altruistisches Handeln in der Medizin gelegt. Diese ethischen Standards sollten unbedingt beibehalten werden.

STANDARD: Was wäre Ihr Vorschlag?

De Witte: Meine Strategie ist, dass medizinische Erkenntnisse, die über Daten gewonnen werden und insofern ein Ergebnis von künstliche Intelligenz sind, als öffentliches Gut zu verankern. Dies in Kooperation mit der Politik, öffentlichen Forschungsinstitutionen, aber auch mit der Wirtschaft und Einzelpersonen. (Karin Pollack, 12.6.2019)