Angela Lehner: Sehr bald stellt sich die Frage, ob der Ich-Erzählerin Eva zu trauen ist.

Foto: Paula Winkler

Es ist selten, dass man solche Bücher in die Hände bekommt – erst recht solche Debüts. Schon auf den ersten Seiten hat einen Angela Lehners Vater unser für sich eingenommen. In einem ganz eigenen, unverwechselbaren und doch völlig unstilisiert wirkenden Tonfall berichtet die Ich-Erzählerin Eva da, wie sie von der Polizei in das psychiatrische Zentrum Otto-Wagner-Spital (kurz: OWS) gebracht wird.

Wie sie ihren Wunsch äußert, etwas zu trinken. "Keine Reaktion. Das ist mir unangenehm. Ich warte eine halbe Stunde und versuche es noch einmal. 'Verzeihung', sag ich, 'Durst.' 'An Durst hat s'', vernehme ich eine Stimme aus der Fahrerkabine. 'Ah, iatz hat s' an Durst?', sagt eine andere. 'Richtig', sag ich, 'einen Durst hab ich.' Die Polizisten bemurmeln sich untereinander. Von vorne höre ich ein 'In Ordnung'. In Ordnung, denke ich mir, ist doch ganz in Ordnung, diese Polizei. Was haben denn immer alle?"

Man möchte endlos zitieren, wie diese Eva den Wahnwitz des Alltäglichen beschreibt. Wobei sich sehr bald die Frage stellt, ob dieser Ich-Erzählerin überhaupt zu trauen ist.

Charmante Verrückte

Aufgewachsen ist sie in einem tiefkatholischen Kärntner Dorf. Mehrmals taucht das Bildnis Jörg Haiders in Verbindung mit Rosenkränzen auf, das erste Mal in einer Tankstelle auf der Fahrt ins Spital. "'Mein Gott', sag ich, 'sind wir in Kärnten?'" Eingeliefert wird Eva, weil sie behauptet, eine Kindergartenklasse erschossen zu haben. Aber schon die Kinder in ihrer Volksschulklasse wussten: Die Eva lügt immer.

Im OWS trifft sie auf ihren jüngeren Bruder Bernhard, schwere Magersucht. Eva behauptet, ihm helfen zu wollen. Bernhard versucht panisch, vor ihr davonzulaufen. Dem Psychiater erzählt sie, dass die Eltern tot sind, der Vater habe sich umgebracht, die Mutter lebe auch nicht mehr. Gleichzeitig verfolgt sie die fixe Idee, man müsse den Vater ermorden, um den Sohn zu retten. Und wieso taucht die Mutter immer wieder im Spital auf?

Nicht nur die Figuren im Roman, die spitalseigene Nagelpflegerin etwa, die ihr unter Tränen ihr Auto anvertraut, gehen Eva auf den Leim. Auch als Leserin erliegt man ihren Manipulationen, ihrem Witz, sogar ihrer Gemeinheit. Klar, sie beschimpft andere Spitalsinsassen (von ihr als "Irre" tituliert, wobei sie sich selbst einschließt), hilft einer suizidalen jungen Frau, ihre Entlassung herbeizulügen, weil sie sie als Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Bruders sieht – aber irgendwie wirkt diese charmante Verrückte doch ganz vernünftig.

Angela Lehner, selbst 1987 in Kärnten geboren, erschafft in ihrem Debüt eine Frau, die einem noch lange im Kopf herumspukt. Womöglich sogar eine Figur, die in das literarische Gedächtnis dieses Landes eingehen wird. Bemerkenswert ist das nicht nur deshalb, weil es eine Frauenfigur ist. Sondern auch, weil es eine alles andere als klischeehaft weibliche ist.

Eigenwilliger Tonfall

Diese Eva interessiert sich null für Männer – zumindest nicht als Liebesobjekt. Sie will den Vater töten, was (siehe Ödipus) eigentlich eher zu den Männermythen gehört, und den Bruder retten. Das Retten ist ja landläufig auch eine tendenziell männliche Tätigkeit, Frauen kommt mehr das Kümmern zu.

Aber von klassischen Frauenthemen – Aussehen, Beziehungsprobleme, Kinder – ist diese Figur meilenweit entfernt. Sie schert sich auch nicht darum, was die anderen von ihr denken. Und wenn, dann eher so, dass sie nackt im Behandlungszimmer sitzen bleibt, nicht "dass irgendjemand denkt, ich würde mich für meine Nacktheit schämen".

Bemerkenswert ist auch, wie Lehner in ihrem Debüt das sprachliche Niveau bis zum Schluss hält. Der eigenwillige Tonfall wird nie manieriert, kein schiefes, pseudo-originelles Bild unterläuft ihr, der Text wirkt völlig organisch. Das lässt zum einen ein überdurchschnittlich gutes Lektorat vermuten. Aber auch das beste Lektorat nutzt nichts, wenn man es nicht mit einer Autorin zu tun hat, die über großen schriftstellerischen Instinkt verfügt.

Mit geschickt dosierten lebensklugen Sätzen verhindert Lehner auch, dass der Roman zur gut gemachten Oberfläche verkommt, gibt ihm Tiefe: "'Na ja', sag ich, 'die Menschen glauben immer, man bemerkt ihre Wunden nicht, solange sie nicht auf der Haut sind. Aber das stimmt nicht. Man sieht ihnen ihre inneren Narben immer an. Man sieht es an der Art, wie sie einen grüßen, wie und ob sie Danke sagen, wenn man etwas für sie getan hat.'"

Man muss diese scheinbar so starke, selbstsichere, egozentrische und furchteinflößende Eva mögen. Aber man fühlt auch mit ihr, spürt ihren Schmerz. Der Schluss, so viel sei verraten, ist kein befriedigender.

Das ist nur stimmig, ein solches Ende wäre Betrug an der Geschichte gewesen. Schließlich erzählt Vater unser von der Einsamkeit, die psychische Erkrankungen mit sich bringen. Ein brillanter Roman über seelisches Leid – und über die kranke Welt, in der wir leben. (Andrea Heinz, 13.6.2019)