Sandra Kieferle lebt seit Anfang Februar ohne Wecker. Wann sie den Tag beginnt, bestimmt ihre innere Uhr. Die gibt auch vor, wann sie ins Büro kommt. Die Vertriebsmitarbeiterin ist Teil eines Experiments, das die deutsche Firma Späh Anfang des Jahres gestartet hat: Was passiert, wenn Arbeitende ihren Tagesablauf nicht von außen bestimmen lassen, sondern nach ihrem eigenen Rhythmus gestalten?

Das Familienunternehmen mit Sitz in Baden-Württemberg ist auf den ersten Blick kein Ort, an dem man innovative Arbeitskonzepte vermutet. Das schlichte Firmengebäude steht zwischen Feldern und pittoresken Fachwerksdörfchen im 2500-Seelen-Ort Scheer. Dichtungen und Kunststoffzuschnitte aller Art werden hier hergestellt, 380 Menschen arbeiten hier. Doch wie viele Firmen in der Region hat Späh mit dem Mangel an Fachkräften zu kämpfen – und damit, dass die Jungen die Region in Richtung Stadt verlassen. Die Firmenleitung erhofft sich von dem Experiment also auch eine Antwort auf die Frage, wie man den Arbeitsplatz attraktiver machen kann.

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Belohnt wird, wer das Rad nimmt

Selma Sibic und Lejla Späh betreuen das Projekt für die Geschäftsleitung unter dem Stichwort "New Work". Schon in der Vergangenheit probierten sie einiges aus: Es gibt Stehpulte und Belohnungen für Beschäftigte, die mit dem Rad zur Arbeit kommen. Es gibt einen Pausenraum mit Gymnastikbällen und Tischtennistisch – und mit Matten und Decken für den Mittagsschlaf. "Wir sind schon die Flippigen hier in der Gegend" sagt Selma Sibic.

Und jetzt also Arbeiten nach der inneren Uhr: Zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leben seit Anfang Februar ohne Wecker. So wie Sandra Kieferle. "Ich wurde immer aus dem Tiefschlaf gerissen und war morgens schlecht drauf", erzählt die Vertriebsmitarbeiterin. Ohne Wecker wache sie von alleine gegen sieben Uhr auf und ist um acht in der Arbeit. "Der Druck fällt völlig weg." Im Büro macht sich Kieferle dann sofort an die schwierigen Fälle. Früher hat sie zuerst einen Kaffee gebraucht, um die Motivation dafür aufzubringen. Ähnliches berichtet ihre Kollegin Sarah Hofmann.

Sandra Kieferle lebt siet Anfang Februar ohne Wecker.
Foto: Irmi Wutscher

Gleiche Bettgehzeiten, weniger Stress

Beide erzählen, dass sich ihr Aufstehverhalten geändert habe – die Bettgehzeiten seien gleich geblieben. "Am Aufstehen hängt alles dran, was Stress verursacht", sagt der Unternehmensberater Michael Wieden. Er ist Experte für Chronobiologie am Arbeitsplatz und betreut die Studie. Auf die innere Uhr abgestimmtes Arbeiten basiert auf der Tatsache, dass jeder Mensch natürliche Schlaf- und ein Wachfenster mit besonders produktiven Zeiten hat. Idealerweise legt man die Arbeitszeit in die individuelle Produktivzeit – das steigert die Leistung und hält gesund.

Die Probanden bei Späh dokumentieren ihre Aufsteh- und Arbeitszeiten genau. Zu Beginn des Projekts haben sie einen an der Berliner Charité entwickelter Bluttest gemacht, der ihren genetischen Chronotyp ermittelte. Nun wird überprüft, ob die selbstgewählte Arbeitszeit der Studienteilnehmer auch ihrem Chronotyp entspricht.

Die größte Angst der Testteilnehmer und der Firmenleitung war am Anfang, dass die Beschäftigten erst nach Mittag in der Arbeit erscheinen. Das hat sich nicht bestätigt: Es gibt ein paar sehr frühe Vögel, die schon vor sechs Uhr da sind. Der Rest kommt um neun, spätestens halb zehn. So wie Sandra Kieferle und Sarah Hofmann.

Ein Pausenraum lädt zum Entspannen im Liegen ein.
Foto: Irmi Wutscher

Nach zehn kommt keiner

Die Mitarbeiter hätten auch vor der Studie erst um neun ins Büro kommen können, Gleitzeit gewährt ein Zeitfenster von sieben bis neun. "Das hat aber niemand gelebt", sagt Hofmann. "Man wusste: Wenn die Kollegen um sieben Uhr da sind, sollte ich auch da sein. Das Leben ohne Wecker ist eine Legitimation, wirklich später zu kommen."

Auch andere Firmen haben bereits mit der Arbeitstaktung nach der inneren Uhr experimentiert: Thyssen-Krupp betrieb ein Projekt mit der Uni München. Nach Abschluss ist man aber wieder zum Normalbetrieb zurückgekehrt.

Frühschicht ist am beliebtesten

Auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben lässt man die Mitarbeiter möglichst selbst entscheiden, welche Schicht sie machen wollen. Am beliebtesten sei die Frühschicht, da gebe es immer Wartelisten, sagte die BVG-Betriebsärztin gegenüber der deutschen Zeit. Die Dienstplanerstellung sei so zwar mühsamer – aber die Mitarbeiter zufriedener mit ihren Arbeitszeiten.

15.000 Euro gibt Späh für Schulungen, Bluttests und Beratung aus, um Beschäftigte nach der inneren Uhr arbeiten zu lassen und die Veränderungen zu dokumentieren. Was hat die Firma davon? Neben dem Wunsch, junge Fachkräfte anzuziehen und dafür auch ungewöhnliche Wege zu gehen, könnte am Ende noch ein Szenario stehen: "Wenn das Feedback gut ist, könnte man künftig im Bewerbungsverfahren Schichtarbeiter gezielt nach Chronotyp suchen", sagt Lejla Späh. Es gebe nichts Schlechteres, als einen Spättyp in die Frühschicht zu stecken und umgekehrt. Wobei am Experiment aktuell keine Schichtarbeiter teilnehmen. Das wäre zu kompliziert zu organisieren – derzeit wird nur im Büro nach den inneren Uhren gewerkelt.

Das frühere Gleitzeitfenster "hat niemand gelebt", erzählt Sarah Hofmann.
Foto: Irmi Wutscher

Folgen für Familie und Freizeit

Anfang Juli ist der Testbetrieb bei der Firma Späh vorbei, dann wird ausgewertet, was funktioniert hat und was nicht. Bedenken zeichnen sich ab: "Es war schon schwierig, alle an einen Tisch zu bekommen", sagt Lejla Späh. "Die Mitarbeiter sind eingespannt mit Kundenterminen, Workshops, Schulungen. Wie ist es dann erst mit lauter verschiedenen Chronotypen?" Natürlich sei die dauerhafte Umsetzung so eines Arbeitsmodells aufwendig.

Die andere Frage ist, wie sich die flexi blen Arbeitszeiten auf das Freizeit- oder Familienleben der Angestellten auswirken. "Wenn die sagen, ich fühle mich zwar fitter und besser, aber ich habe Eheprobleme und sehe mein Kind nicht mehr – das ist dann auch nichts", sagt Späh. Am Ende der Studie werde mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern überlegt, was an dem Modell gepasst habe. Und dann entscheidet die Firmenleitung, was sie im Arbeitszeitmodell umsetzen kann.

Da dürfte auch mitspielen, wie das Umfeld auf die Arbeitszeiten reagiert. "Wenn ich im Freundes- und Bekanntenkreis erzähle, dass ich ohne Wecker lebe und in die Arbeit gehe, wenn ich wach bin, dann fragen die, ob wir sonst keine Probleme haben", sagt Sarah Hofmann. (Irmi Wutscher, 10.6.2019)