Der Wiener Würstelstand ist kulinarisch eine vertane Chance. Stellen Sie sich einen Ort vor, an dem mit Liebe gemachte und ebenso gegarte Würste aus einst glücklichen Tieren verkauft werden, zusammen mit langsam vergorenem sauren Gemüse, gekonnt abgeschmecktem Senf, frischgebackenem Brot und richtig gutem Bier. Muss ja nicht immer sein, aber zumindest manchmal. War bisher jedoch bloß ein Traum. Nun ist Wien diesem Traum seit ein paar Wochen einen Schritt näher gekommen. Die Stadt hat endlich einen Würstelstand, an dem es um die Wurst geht.

Drei Käsekrainer von verschiedenen Fleischern sind hier im Angebot, drei Bratwürste, zwei Frankfurter, eine Waldviertler und Lammbratwürste. Alle schmecken sie gut, manche sogar sehr (Käsekrainer vom Schober in Gars am Kamp, Bratwurst vom Landl in Ottakring, Waldviertler vom Hoffmann, Hollabrunn). Das Brot ist aus Sauerteig und dem Holzofen der Biobäckerei Gragger, genauso wie die eigens für den Würstelstand entwickelten, exzellenten Bosna-Weckerln. Die Würste kommen aus kleinen Fleischereien aus Wien und der mehr oder weniger nahen Umgebung. Bloß jene für die Bosna (mit hausgemachter Currymischung!) wird wohl oder übel aus Salzburg importiert.

Gute Würste, gutes Brot, gutes Bier: der Wiener Würstelstand Ecke Pfeilgasse/Strozzigasse.
Foto: Stefan Oláh

Auf der Bierliste steht Flaschenbier aus der Augustinerbrauerei Salzburg, eine unpasteurisierte Köstlichkeit, die sonst nur noch an einer kaum bekannten Adresse in Wien (Weinhandlung Rudl Polifka) zu bekommen ist. Bloß Senf, Ketchup und Essiggemüse sind derzeit noch gewöhnliche Supermarktware. Das soll sich aber bei Gelegenheit ebenfalls ändern.

"Man muss am Würstelstand nicht viel anbieten, aber das, was man hat, muss richtig, richtig gut sein", sagt Michael Lanner. "Bei einem Wurstgericht kann man nichts kaschieren." Lanner ist einer der Betreiber des Wiener Würstelstandes, einer zumindest nach Genremaßstäben prächtigen Würstelbude an der Ecke Pfeilgasse/ Strozzigasse im Herzen des achten Bezirks. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Stefan Sengl hat Lanner den Stand gekauft und nach Jahren des Leerstands neu aufgesperrt. Die beiden haben sich dabei Großes vorgenommen: "Den Wiener Würstelstand auf die Höhe der Zeit zu bringen", wie Lanner sagt.

Kulturgut

Das heißt: gute Ware von kleinen Produzenten, jede Menge Bio (mit steigender Tendenz). Mindestens 30 verschiedene Fleischer haben die beiden kontaktiert und sich in Blindtests durch deren Sortiment gekostet. "Jeder Metzger hat seine Sternchenprodukte", sagt Lanner, "und die wollten wir finden." Das Ergebnis der Suche lässt sich nun seit gut einem Monat verkosten.

Wurst, Senf, Brot und Pfefferoni sind mit 3,70 Euro bis maximal 4,90 Euro für manche Bioware nur unwesentlich teurer als bei der Konkurrenz mit der Gastrogroßmarktware. Dosenbier gibt's bereits ab 2,20 Euro – günstig genug, dass sich auch die Studenten aus dem nahen Pfeilheim anstellen. "Wir wollen kein Hipsterwürstelstand sein, sondern für alle, vom Bauhackler bis zum Bobo", sagt Lanner.

Sengl und Lanner träumten schon lange von einem eigenen Würstelstand: "Uns hat einfach der Wurster unseres Vertrauens gefehlt", sagt Sengl. Über eine gemeinsame Freundin, die um den Würstelstandwunsch der beiden wusste, lernten sie sich kennen, eine einfache Google-Suche führte sie schließlich zu zwei leerstehenden Ständen: einer am Zentralfriedhof, einer in der Pfeilgasse. Die Wahl fiel den beiden nicht schwer.

Befreundete Gastroprofis rieten alle ab von dem Experiment – zu wenig Frequenz in der Lage -, Sengl und Lanner wollten es trotzdem versuchen. "Der Würstelstand ist ein Stück Kulturgut, ein Ort im Grätzel, der für jeden zugänglich ist, echtes Streetfood und leider vom Aussterben bedroht", sagt Lanner. In den vergangenen sechs bis sieben Jahren sei fast die Hälfte der Würstler in Wien verschwunden. "Der Gesundheitstrend, das Ethnoessen, Lieferservice, die Registrierkasse – das alles hat dem Würstelstand zugesetzt. Wir wollten versuchen, hier etwas zu entwickeln, das diesem Trend Einhalt gebietet."

Historisches

Wenig verwunderlich kommen beide Betreiber aus Salzburg, jener Stadt, die Wurstconnaisseuren als Hauptstadt des gefüllten Darms in Österreich gilt. Auch wenn sie schon viele Jahre hier leben: "Uns hat einfach der Würstler unseres Vertrauens gefehlt", sagt Lanner. Und erzählt von Salzburger Gästen, die beim Biss in ihre Bosna tatsächlich Tränen in den Augen gehabt hätten.

Dass es am Wiener Würstelstand so selten um die gute Wurst geht, hat wohl auch mit des Würstelstands Geschichte zu tun: Bis in die späten 1970er-Jahre war er keine Touristenattraktion, sondern schlicht das, was Garküchen überall auf der Welt sind: ein Ort, an dem arme und/oder eilige Menschen günstig, schnell und frei von bürgerlichen Manieren etwas essen konnten. Und genauso, wie heute die Behörden im sich entwickelnden Thailand oder China zum Entsetzen der Touristen verstärkt gegen ihre Straßenköche vorgehen, waren auch den österreichischen Behörden einst die Wurstverkäufer ein Dorn im Auge.

Traditionell waren Wurstverkäufer in Wien meist mobil. Die fixen Standgenehmigungen, die für die Stände ab den 1960er-Jahren erstmals vergeben wurden, sollten auch dazu dienen, die Händler besser kontrollieren zu können, und heute, viele Jahrzehnte, ein Wirtschaftswunder und eine Registrierkassenpflicht später, braucht es für den Würstelstandbetrieb immer noch (neben vielen anderen) eine Genehmigung der MA 19, zuständig für das Stadtbild. Im ersten Bezirk werden prinzipiell seit Jahren keine neuen Genehmigungen mehr erteilt.

Konkurrenz

Der Kult um die Wurst oder, besser, den Stand dürfte erst Ende der 70er-Jahre, Anfang der 80er-Jahre aufgekommen sein, wie der Stadtforscher Peter Payer in seinem schönen Aufsatz "Der Geschmack der Stadt" schreibt – und zwar als Gegenbewegung zu zwei neuen Fastfoodtrends, die dem Würstelstand bald ernsthafte Konkurrenz machen sollten: dem amerikanischen Hamburger, der seinen Siegeszug mit der Eröffnung des ersten McDonald's 1977 begann, und dem türkischen Kebap, der spätestens ab Beginn der 1980er-Jahre die Wiener Straßen eroberte.

Bald häuften sich die melancholisch-(Stadt-)patriotischen Geschichten, in denen der Würstelstand gepriesen und verklärt wurde, allerdings schon damals weniger für sein Essen als für den klassenlosen Zugang, das egalitäre Esserlebnis und als original österreichisches Fast- und Streetfood. In jener Zeit verbreitete sich auch der Zusatz "Wiener", der seither gern vor das Wort "Würstelstand" gestellt wird – nachzulesen auch auf dem Schild über Sengls und Lanners Stand.

Vegane Wurst

Allzu viel Lokalpatriotismus ist allerdings unangebracht, verdankt sich das Angebot des "Wiener Würstelstandes" doch, genauso wie der Rest der "Wiener Küche", der Masseneinwanderung aus allen Teilen der Monarchie um die vorletzte Jahrhundertwende. Die Bratlbrater, die Urwürstler, verkauften einst vor allem Gesottenes wie Frankfurter, Blut- und Leberwürste. Erst um 1900 kamen dann so exotische Speisen wie slowenische Krainer, ungarisch paprizierte Debreziner oder gar süddeutscher Leberkäse hinzu. Die Burenwurst, bis zum Siegeszug der Käsekrainer der Star am Würstelstand, war ursprünglich eine deutschnationale Propagandawurst: Sie wurde von Sympathisanten der Buren verkauft, um damit deren Krieg gegen die Engländer zu unterstützen.

Heute wird sie an Lanners und Sengls "Wiener Würstelstand" gar nicht mehr angeboten. "Wir haben keine gefunden, die uns überzeugt hat, und sie geht interessanterweise keinem ab", sagt Lanner. Dafür gibt es seit kurzem eine vegane Wurst aus Pilzen für die Bosna – unter all den Gewürzen und im guten Brot fällt sie nicht einmal störend auf. Und wenn das Geschäft einmal läuft und sich eingespielt hat, soll es samstags frische, nicht vorgebrühte Kalbswürste geben, heiß aus dem Kessel, und nur, solange der Vorrat reicht. Das klingt schon sehr nah dem Stoff, aus dem Wurstträume sind. (Tobias Müller, RONDO, 14.6.2019)