Wenn man von einer Großstadt wie von einem lebendigen Wesen umschlungen wird: "Sunset" heftet sich an seine Hauptfigur Írisz Leiter (Juli Jakab), die im Budapest des Jahres 1913 ihr Glück versucht.

Foto: Thimfilm

László Nemes will mit "Sunset" die Konventionen des Historienfilms überwinden.

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Son of Saul, die dramatische Rekonstruktion der Hölle eines NS-Vernichtungslagers, hat den ungarischen Regisseur László Nemes mit einem Streich im Weltkino etabliert. Nun legt er mit Sunset seinen zweiten Spielfilm vor, der im Budapest von 1913 vom Anfang des Endes der österreichisch-ungarischen Monarchie erzählt. Mit einer ähnlichen inszenatorischen Zange, die den Zuschauer auf die Perspektive der Hauptfigur Írisz Leiter (Juli Jakab) einschwört, dringt man in den Moloch der Großstadt ein und folgt der jungen Frau von ominösen Vorkommnissen in einer Hutmanufaktur alsbald zu politischen Verstrickungen. Nemes spricht im Interview auf dem Filmfestival Toronto von Sunset als einem "Tanz der Sterne" – er wollte kein fertiges Universum zeigen, sondern eines, das sich Szene für Szene herausbildet.

STANDARD: Nach "Son of Saul" gehen Sie nun ein paar Jahrzehnte zurück und beschäftigen sich mit der Abenddämmerung der k. u. k. Monarchie. Gibt es einen klaren Bezug zwischen beiden Filmen?

Nemes: Es gibt eine Kontinuität, die mehr einem familiären Verhältnis gleicht. Mit geheimen Verbindungen, die einem selbst manchmal erst auffallen, nachdem man den Film fertig hat. Mich hat vor allem die Geburt des 21. Jahrhunderts interessiert: Was hat es bedeutet, vor hundert Jahren ein Mensch zu sein? An einem Ort, der eigentlich so vielversprechend war. Wie sehr ist eine Gesellschaft an ihrem Zenit bereits auf ihren Niedergang vorbereitet? Ich habe mich gefragt, ob sich der Durst nach Selbstzerstörung in der Seele dieser Menschen widerspiegeln würde. Deshalb bin ich noch ein Stück weiter zurückgegangen – zu diesem mysteriösen Selbstmord Europas.

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STANDARD: Nebst allen historischen Unterschieden: Wollten Sie mit dieser Abwärtsspirale auch die Gegenwart beleuchten?

Nemes: Ich tendiere immer dazu, ein paar Schritte zurückzutreten, um das gesamte Bild zu sehen. Wie unterscheidet sich der Mensch von heute von dem damals? Es sind gefährliche Zeiten. Wir gehen geradezu über vor Liebe gegenüber Technologien, wir sind vernarrt in uns selbst – und wir erliegen der Illusion, dass wir Götter sind. Dabei leben wir in einem Zeitalter der Entzauberung. Ich sehe kein Begehren, keine Mysterien. Das Europa des 19. Jahrhunderts wurde von der Idee des modernen Nationalstaates getragen. Noch hundert Jahre davor war es anders, ein viel größeres Gemisch. Es ist schon interessant, warum man sich nie mit dem Gegenwartszustand zufriedengibt.

STANDARD: In "Sunset" bleibt die gesellschaftliche Erosion eher eine Ahnung. Sie erzählen bewusst keine Geschichte einer Intrige, die durch klare Oppositionen aufgebaut wird.

Nemes: Ja, ich will das Mysterium bewahren. Es ist eher wie im richtigen Leben, da lassen sich die Dinge auch nicht auf Fakten reduzieren. Die Bedeutungen sind fließender.

STANDARD: Das Konzept hat etwas von einem Spiel mit dem politisch Unbewussten. Írisz stößt auf Untergrundbewegungen, und man weiß nicht, sind sie anarchistisch oder nationalistisch?

Nemes: Das liegt auch an der Zeit. Es gab so viele Gruppierungen vor dem Ersten Weltkrieg, die alle etwas anderes wollten. Ein einziges Köcheln von Ideologien und Begehrlichkeiten. Wenn man sich dem filmisch nähert, dann ist die Versuchung groß, alles auszubuchstabieren. Aber meistens sind die Dinge nicht spezifisch, sondern ein Morast, ein Durcheinander. Es ist bestimmt kein Zufall, dass zu dieser Zeit die Psychoanalyse zwischen Wien und Budapest aufblühte. Auch Franz Kafka konfrontierte seine Leserschaft mit einem unergründlichen Universum. Es ist konkret, aber zugleich ein Krieg der Zeichen.

STANDARD: Kafkas Gleichnisse waren ein Einfluss?

Nemes: Auf jeden Fall, so wie auch Dostojewski. Dass die Dinge immer weiterlaufen und wir keinen Anfang und kein Ende sehen können – und dass es Kräfte um einen gibt, die einen in eine Spirale hineindrängen: Das sollte alles Teil des Films sein. Für mich ist es ein dunkles Märchen. Vor allem die Begegnung mit einem Begehren war wichtig, im Unterschied zu all dem flachen Kontext, der in konventionellen Filmen ausgelegt wird. Ich wollte ein Labyrinth schaffen, ein Rätsel.

STANDARD: Ästhetisch wählen Sie wieder eine ähnliche Strategie wie in "Son of Saul". Alles ist aus der Subjektiven gefilmt, die Übersicht fällt schwer.

Nemes: Meine Form hat ja eine Philosophie, es ist keine Strategie, die sich selbst genügt. Mir geht es um eine Immersion, die zugleich auch von den Begrenztheiten der Wahrnehmung erzählt. Das ist dem Verständnis der Welt, wie es heute gerne propagiert wird, klar entgegengesetzt. Ich halte diesen panoptischen Blick auf die Welt für eine Illusion – ich will zurück zu dem, was uns limitiert. Das erinnert das Publikum daran, dass sein Blick nicht unbegrenzt ist. Die Forderung nach einer objektiven Darstellung des menschlichen Lebens ist doch in Wahrheit nur ein Resultat der Panik, dass man nicht weiß, wie man mit dem Publikum in Kontakt treten soll.

STANDARD: Haben Sie deshalb auf Film gedreht? Weil das Medium ein Verhältnis zur Realität hat?

Nemes: Genau, es ist ein physisches Medium, und es geht um eine physische Welt. Heutzutage leben wir mehr und mehr in einer virtuellen Welt. Es wäre das Traurigste, was passieren könnte, wenn wir keinen Zugriff mehr auf die physische Welt hätten. (Dominik Kamalzadeh, 13.6.2019)