Die Identifikationsfigur meines zwölfjährigen Ichs: Bart Simpson.

Foto: 20th Century Fox / The Simpsons

Ich habe es nicht bereut, in der siebenten Klasse durchgefallen zu sein. Ich wusste damals ohnehin nicht, wohin mit mir. Zwischen ersten Liebeleien und Eltern, die gerade nicht so gut miteinander konnten, war kein Platz für Hausaufgaben. Tagsüber wurde mit Freunden abgehangen, nachts mit Festnetzhörer am Ohr und Tschick am Fenster die Zeit vergessen. Nur eines wusste ich genau: Die Schule konnte mir gestohlen bleiben.

Dabei wuchs ich mit allen Privilegien auf, die meine Eltern und Großeltern erarbeitet hatten. Ich hatte außer latenter Faulheit keine Lernschwäche, wurde nie gemobbt und fand im Gymnasium sogar Freunde fürs Leben. Trotzdem habe ich meine Aufgabe im System Schule nie gefunden.

Weshalb musste ich uralte Texte auswendig lernen? Wieso drohte die Mathelehrerin, uns den Kopf abzureißen? Fühlte sich ein Fünfer wie eine Bestrafung an? Wieso lernten wir alles über Kriege von gestern und nichts über Konflikte von heute? Warum in Chemie nicht, dass Plastik die Meere zerstört? Weshalb wurden wir ständig bewertet, als wären wir Waren bei Amazon? Und warum hatte der, der mit dem Rücken zur Tafel stand, die Macht, uns durchfallen zu lassen? Träume ich (36) deshalb immer noch davon, die Matura wiederholen zu müssen?

Psychische Auffälligkeiten

Mit meinen nachhallenden Sorgen sei ich nicht allein, erklärt mir Klaus Seifried, vom Berufsverband Deutscher Psychologen. Nach wie vor werden in Schulen Lehrpraktiken gepflegt, in denen sich die Generation Internet nicht wiederfindet. "Vor 150 Jahren war es sinnvoll, alles auswendig zu lernen", erklärt der Psychologe. "Heute braucht es Medienkompetenz." Man müsse lernen, wo man Informationen findet, wie man sie interpretiert und verknüpft, um sich in einer Welt zurechtzufinden, in der Wissen immerzu verfügbar ist. Es werde zu wenig anschaulich gelehrt.

"Anstatt nur 'Faust' zu lesen, könnte die Klasse daraus ein Theaterstück inszenieren", gibt Seifried als Beispiel. Auch die Werkstatt sei ein geeigneterer Ort, um entdeckendes, forschendes Lernen zu ermöglichen. An vielen Schulen ist der Unterricht stark kognitiv ausgerichtet, Motivation entsteht aber durch die Verbindung von Kopf, Herz und Hand.

Ziel einer modernen Schule müsse sein, die Neugier zu fördern und die Zusammenarbeit zwischen Schülerinnen und Schülern zu stärken, anstatt Konkurrenz entstehen zu lassen. Ohne strukturellen Wandel gehe es laut Seifried, der zwölf Jahre lang Lehrer und 26 Jahre Schulpsychologe war, jedoch nicht. In einer inklusiven Schule – aber auch in einem normalen Gymnasium, wo es in jeder Klasse viele Lernniveaus gibt – könnten Lehrpersonen durch Differenzierung besser auf die individuellen Stärken und Schwächen der Kinder eingehen, ihnen im Rahmen des Unterrichts Erfolge vermitteln und das Gefühl von Selbstbestimmtheit geben. Leistungsstarke und leistungsschwache Schüler würden so gefordert und gefördert.

Anerkennung

Der Schulpsychologe spricht all das aus, was ich mir vom Unterricht gewünscht hätte: "Kinder wollen Anerkennung. Genau wie Sie und ich", betont Seifried. Dafür brauche es eine positive Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schülern. Eine verbale Beurteilung ist aussagekräftiger als eine Ziffernnote. Eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung erfordert Respekt, gegenseitige Wertschätzung, Vertrauen und gegenseitiges Feedback. In regelmäßigen Sprechstunden der Klassenlehrer können Schülerinnen und Schüler ihre Ängste und Leistungsprobleme, aber auch ihre Interessen besprechen.

Im wöchentlichen Klassenrat lernen die Schülerinnen und Schüler, Konflikte in der Klasse zu reflektieren und zu lösen. Die Schule ist ein wichtiger Lebensort für Kinder und Jugendliche. Es ist wichtig, dass sie sich in der Schule wohlfühlen, ihre Interessen entwickeln können und dass sie ihrem Leistungsvermögen entsprechend optimal gefördert werden. Wenn Kinder in der Familie bildungsfern aufwachsen oder vielen Konflikten und Gewalt ausgesetzt sind, kann die Schule ein wichtiger Gegenpol, ein Resilienzfaktor sein.

Andererseits sollten Eltern ihre Kinder nicht mit überhöhten Erwartungen unter Druck setzen, sondern auf die Stärken und Interessen des Kindes schauen. "20 Prozent der Schüler haben psychische Auffälligkeiten", zitiert Seifried eine Studie des Robert-Koch-Instituts. Auch wenn die erzieherische Verantwortung in erster Linie bei den Eltern liege, müsse die Schule Lernschwächen und emotionale Probleme teilweise kompensieren.

Des Pudels Kern

Vielleicht hat mich ja die Abneigung gegen aufgezwungene Wissensspeicherung zum Autodidakten gemacht. Oder ich bin es trotz ihr geblieben. Jedenfalls habe ich alles, was mich interessiert hat, nach der Schule wie ein Schwamm aufgesogen. Nach 13 Schuljahren habe ich Spaß am Lernen gefunden. Wie ein ausgehungertes Gehirn, das aus Arbeit und Internet seine Nahrung zieht.

Und obwohl manches des in der Schule Gelernten mich noch immer vor Rätsel stellt, wünsche ich mir insgeheim doch manchmal, zumindest für einen Tag zurückreisen zu können. Mit dem Selbstbewusstsein eines Erwachsenen. Mit anderen Augen durch einen modernen pädagogischen Rahmen blickend. Dann verstünde ich die Schule heute womöglich auch als neugierdestillenden Honigtopf. Wie eine Youtube-Playliste voll spannender Explainer. Nur in echt und zum Mitmachen. Würde ich abonnieren. (Zsolt Wilhelm, 19.6.2019)