Bei einem kleinen Aufenthalt in Frankreich ist dem Chronisten ein verblüffendes Buch des Literaturwissenschafters Pierre Bayard in die Hände gefallen. "Comment parler des livres que l’on n’a pas lus?" (Editions de Minuit) widmet sich dem weit verbreiteten, aber stark tabuisierten Problem, wie man in Gesellschaft, bei Prüfungen oder in sonstigen Lebenslagen über Bücher sprechen soll, die man nicht gelesen hat, von denen aber gemeinhin angenommen wird, dass man sie als kultivierter Mensch gelesen haben sollte.

Aus der Feder eines Literaturwissenschafters ist ein solches Werk besonders pikant, aber Bayard gesteht freimütig ein, dass ihm die Lektüre schon in früher Jugend verdrießlich gewesen sei oder dass er oft einfach nicht die Zeit zu lesen gehabt habe. Zur Kompensation dieses Mangels hat Bayard ein paar raffinierte Strategien entwickelt, die ihm nicht nur eine akademische Karriere ermöglichten, sondern ihn auch zu ausgedehnten literarischen Unterredungen mit Studenten über Bücher befähigen, die diese Bücher ihrerseits auch nicht gelesen haben. So kommt letztlich jeder auf seine Kosten.

Bayard, ein gründlicher Geist, differenziert auch auf sinnvolle Weise zwischen unterschiedlichen Arten, wie man ein Buch nicht gelesen haben kann; und er führt eine kleine Nomenklatur ein, um diese einzelnen Gattungen der Nicht-Lektüre voneinander abzugrenzen. "Livre inconnus" (LI) sind solche, von denen man weder gehört geschweige denn sie gelesen hat; "Livres parcourus" (LP) sind solche, die man "auszugsweise" oder "quergelesen" hat, und die Livres Oubliés (LO), die vergessenen Bücher, mag man wirklich einmal gelesen haben, aber man erinnert sich nicht mehr an sie, was im Endeffekt auf dasselbe hinauskommt wie wenn man sie gar nicht gelesen hätte.

Als ein weiteres Element führt Bayard eine vierstufige Skala von Doppelplus bis Doppelminus ein, mit der man noch zusätzlich darüber informieren kann, welchen Eindruck man, trotz Nichtlektüre, von einem Werk gewonnen hat. Ein LI - - wäre somit ein Buch, das man nicht kennt und von dem man auch rein gar nichts hält. Da sich das Nichtlesen auch in Österreich großer Beliebtheit erfreut, halte ich diese Abkürzungen für so nutzbringend, dass ich vorschlage, sie umgehend für unseren Sprachraum zu adaptieren: BD- hieße dann soviel wie "Buch durchgeblättert und schlecht gefunden"; NG++ entspräche einem "Nicht gelesen, aber sehr gut bewertet". Vielleicht haben ja auch die p.t. Leser auch die eine oder andere Assoziation zum Nichtlesen in petto und wollen diese der Allgemeinheit per Posting mitteilen.