Michael Marek hat Pham Thanh Cong getroffen, der im März 1968 Augenzeuge des Blutbades von My Lai war.

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Nationalstraße eins. Vormittags. Verkehrsgewühl: Auf der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung Vietnams drängeln sich Mopeds und Lkws. Es ist schwül, die Luftfeuchtigkeit unerträglich. Schulkinder sind auf Fahrrädern unterwegs, in adretten Uniformen mit roten Pioniertüchern um die Hälse geschlungen. Auf dem Weg nach My Lai geht es vorbei an Kokospalmen und Wasserbüffeln, grün schimmernden Reisfeldern und Lehmhütten im Schatten mächtiger Bambuswedel. Eine ländliche Idylle.

In dem kleinen südvietnamesischen Dorf, 540 Kilometer nordöstlich von Saigon, wurden am 16. März 1968 504 Menschen von US-Soldaten ermordet. Mitten im Dorf liegt die Gedenkstätte, die 1976 eröffnet wurde. Am Eingang steht ein Mann im leuchtend blauen Hemd und begrüßt mich. Pham Thanh Cong, 51 Jahre alt, arbeitet hier als Museumsdirektor. Bis heute hat sich kaum jemand für seine Geschichte interessiert. Heute ist er der letzte Augenzeuge des Massakers von My Lai.

Wir betreten das kleine Büro, begleitet von einer vietnamesischen Dolmetscherin. Pham Thanh Cong spricht mit sparsamen Gesten: "Die Soldaten bewarfen uns mit Handgranaten und schossen mit Gewehren auf uns." Damals, 1968, war Pham Thanh Cong elf Jahre alt. "Meine Mutter und meine kleineren Geschwister waren zerfetzt, aber mit ihren Körpern haben sie mich beschützt. Ich war verletzt und lag bewusstlos in diesem Bunker zwischen all den Leichen." Am Nachmittag, nachdem die Amerikaner abgezogen waren, kamen die Bewohner aus den anderen Dörfern und brachten ihn in die Notfallaufnahme.

Seine kleinen, dunklen Augen starren geradeaus. Sie bezeugen das Grauen und die Verletzungen, die äußerlich nicht sichtbar sind. "Nach der Befreiung hatte ich ein schreckliches Leben - ohne Kindheit, ohne Vater und Mutter", erzählt der Mann. Er lebte bei Verwandten in verschiedenen Dörfern. Die Regierung schickte ihn zur Schule bis zu dem Tag, als der Süden endgültig besiegt war. 1992, als die Regierung seine Voraussetzungen und Umstände als Waise überprüft hatte, schickten sie ihn, er war inzwischen 35, hierher zurück. "Man hielt mich für geeignet, die Gedenkstätte zu leiten."

Pham Thanh Cong ist ein höflicher Mensch, der trotzdem eine strenge, fast militärische Ausstrahlung besitzt. Er erzählt von der Trauer seines Volkes, und es klingt ein bisschen nach auswendig gelernten Floskeln. Pham Thanh Cong serviert Tee mit Keksen: "Es ist meine Pflicht, von den Verlusten und Schmerzen unseres Volkes zu erzählen." Er macht eine Pause, lässt die Dolmetscherin übersetzen: "Jetzt, wo Sie mich befragen, zerreißt es mir das Herz. Es ruft in mir Gewissensbisse wach, überlebt zu haben. Aber es ist meine Pflicht, von dem Massaker zu berichten, damit Sie es verstehen können und Anteil an der Trauer unseres Volkes nehmen."

Der 16. März 1968 bleibt der Albtraum seines Lebens: Hubschrauber der US-Armee steigen auf. Soldaten der "Charlie Company" sind auf dem Weg zum "Einsatzort". Ihr Auftrag: Das Aufspüren von Angehörigen des Vietcong, der südvietnamesischen Kommunisten. Die Einheit war an Weihnachten 1967 nach Vietnam verlegt worden, den Feind bekamen sie niemals zu Gesicht. Der 24-jährige Lieutenant William Calley hatte das Kommando und erinnert sich: "Ich stand allein an einem großen Backsteinhaus und schaute hinein. An der Feuerstelle stand ein Vietnamese, am Fenster ein anderer. Ich knallte sie ab, killte sie. Und seltsam - es machte mir einfach nichts aus." Oder der US-Soldat Kenneth Hodges: "Der Befehl lautete, alle im Dorf zu töten. Irgendwer fragte, ob damit auch Kinder und Frauen gemeint seien. Und die Antwort war: Alle im Dorf!"

Eine Bande von Massenmördern

Es kommt zu sexuellen Übergriffen gegen Frauen. Die Bewohner werden mit Bajonetten und Messern verstümmelt. GIs trennen Ohren und Köpfe ab, schlitzen Kehlen auf. Brunnen werden vergiftet, Häuser und Lebensensmittelvorräte in Brand gesteckt. My Lai ist ein Schlachthaus mit 504 Ermordeten - Männer, Frauen und Kinder. "Glückwünsche zum ausgezeichneten Gefecht", telegrafiert später General William Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam.

Knapp ein Jahr gelingt es der Armee, das Massaker zu verheimlichen. Bis der Kriegsveteran Ronald Ridenhour einen Bericht an das Verteidigungsministerium und an Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses schickt. Der damals junge Journalist Seymour Hersh recherchiert die Hintergründe, reist durch die USA auf der Suche nach Mitgliedern der Charlie Company. Hersh bietet seine Geschichte mehreren Zeitschriften an. Alle lehnen ab oder nehmen die Hinweise auf das Kriegsverbrechen nicht ernst - zunächst jedenfalls. Schließlich gelingt es Hersh doch, den Bericht im November 1969 zu veröffentlichen. Erste Bilder vom Massaker tauchen auf, die der Armeefotograf Ronald Haeberle gemacht hat. Die Öffentlichkeit bekommt Berge von Leichen zu sehen, gefolterte und verstümmelte Körper. Die US-Amerikaner sind schockiert: GIs von den Medien entlarvt als eine Bande von Massenmördern.

Ein US-Soldat wagt, den bedrängten Dorfbewohnern zu helfen: Der Hubschrauberpilot Hugh Thompson lässt 16 Vietnamesen ausfliegen, seine Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn halten die mordbereiten Kameraden in Schach.

Heute hängt am Eingang der Gedenkstätte My Lai eine riesige schwarze Gedenktafel mit den eingravierten Namen der Ermordeten: weiß auf schwarz. Daneben stehen lebensgroße Puppen - kostümiert mit historischen Uniformen: GIs, die ihre Maschinengewehre anschlagsbereit halten. Soldaten, die im nächsten Moment vietnamesische Bauern erschießen werden. Eine gestellte Szene, wie aus dem Naturkundemuseum, als hilfloser Versuch, den Wahnsinn von damals einzufangen.

Vor allem vietnamesische Besucher kommen nach My Lai, erzählt der Direktor. Die meisten ausländischen Gäste sind US-Amerikaner - Kriegsveteranen, Studenten und Wissenschafter. Knapp 40.000 Besucher kommen pro Jahr. Die Gedenkstätte gehört zu den größten Gebäuden des Ortes. Überall hängen Fotos von Opfern und Tätern. Eines zeigt Herbert Carter, den einzigen US-Soldaten, der beim Blutbad in My Lai verwundet wurde. Carter hatte sich selbst in den Fuß geschossen, um dem Fronteinsatz zu entkommen. Es gibt noch andere, die mit dem Morden nicht fertig wurden. Pham Thanh Cong etwa: "Wenn mich jemand interviewt, kann ich vorher nicht schlafen. Die Bilder der Erinnerung blitzen in meinem Gedächtnis auf. Ich höre einschlagende Bomben und weinende Stimmen."

Pham Thanh Cong begleitet den Rundgang durch die Gedenkstätte. Die berühmte Fotografie einer alten Vietnamesin fällt ins Auge. Vom Rand her schiebt sich eine Gewehrmündung ins Bild, berührt die Schläfe der Frau. Die Kugel kann ihr Ziel nicht verfehlen. Sie wird sterben. In Todesangst starrt sie ins Objektiv der Kamera. Der Schütze ist unsichtbar. Anonym. Ronald Haeberle drückte den Auslöser. Nie sind die Soldaten beim Töten zu sehen, nie als Täter, sondern als GIs, die ihrem Kriegshandwerk nachgehen. Das heißt in der offiziellen Bildsprache: Hütten niederbrennen, Dorfbewohner verhören oder Bunker überprüfen.

Die Hitze ist kaum zu ertragen. Hinter dem Museum liegt eine Grünanlage und ein gepflasterter Weg, der zu einem Mahnmal führt. Die steinerne Statue einer alten Frau hält in der linken Hand ein ermordetes Kind, die rechte streckt sie als geballte Faust in den Himmel. Zu ihren Füßen: ein junges Mädchen, das einen sterbenden Greis umarmt. Vogelstimmen und quakende Frösche. Alles ist friedlich. Pham Thanh Cong zeigt mir die Reste der Höhlen, in denen die Dorfbewohner Schutz suchten vor den B-52-Flächenbombardements. "Nach Kriegsende hassten wir die Amerikaner", erklärt Pham Thanh Cong, "heute haben wir keine Rachegefühle."

Heute fotografieren Touristen, Kriegsveteranen, Schüler und Journalisten in diesen Ruinen des Vergessens. Das ist der Ort, an dem My Lai einmal stand. Doch in dieser Landschaft von 504 Toten ist das Grauen verschwunden: keine Schreie, keine Angst, kein Massengrab, keine Gebeine, keine Knochenreste. Während auf dem Überlebenden Pham Thanh Cong die Vergangenheit lastet, droht dem Zaungast keine Gefahr.

Pham Thanh Cong überreicht mir einen kleinen Handzettel, zweisprachig: vietnamesisch und englisch. Ich lese, dass My Lai zu den schönsten Dörfern der Gegend gehöre. Es sei berühmt für seinen Patriotismus. Viele Helden der vietnamesischen Geschichte hätten hier das Licht der Welt erblickt. Heute, so klärt man mich auf, sind die Menschen fleißige Arbeiter. Und friedliebend. Das klingt nach kommunistischer Staatsideologie, unbeholfen formuliert: Nach Kriegsende und Wiedervereinigung sei das Leben in das Dorf zurückgekehrt, besagt die kleine Broschüre. Der wunderbare Strand locke vor allem Touristen an. Ein Golfplatz und ein Luxushotel sind geplant.

Eine private Organisation aus den USA hat Geld für den Aufbau eines kleinen Krankenhauses gespendet. Ob die Überlebenden eine Wiedergutmachung bekommen haben? "Weder ich noch die Regierung haben von den Amerikanern etwas zur Unterstützung oder als Entschädigung erhalten." Stolz spricht aus Pham Thanh Congs Worten - und ein wenig Verblüffung über die Frage.

Seymour Hersh gewinnt 1970 mit seiner Magazingeschichte den renommierten Pulitzer Preis. Kürzlich hat Hersh auch die US-Folterungen in Abu-Ghraib enthüllt, die Massaker im ersten Golfkrieg und die Manipulationen der US-Regierung vor dem zweiten Golfkrieg. Ein US-Kriegsgericht verurteilt William Calley zu lebenslanger Haft. Er wurde von Präsident Richard Nixon dennoch bald begnadigt. Seit 1974 lebt William Calley in seiner Heimatstadt Columbus. Die US-Soldaten Hugh Thompson, Lawrence Colburn und Glenn Andreotta bekommen 1998 die Soldier's Medal der US-Army verliehen - als höchste Auszeichnung für ihre lebensrettende Tapferkeit. Pham Thanh Cong lebt heute mit seiner Familie in My Lai.

Auf den Reisfeldern liegen keine Toten mehr, keine Patronenhülsen, und am Himmel sind keine Hubschrauber mehr zu hören.

Nur unsere Schritte. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.3.2008)