Juli Zeh: "Corpus Delicti"
Gebundene Ausgabe, 263 Seiten, € 20,50, Schöffling & Co 2009.
Thomas Glavinic, Thor Kunkel, Christian Kracht und jetzt Juli Zeh: Gelegentlich lehnen sich auch deutschsprachige AutorInnen - mehr oder weniger weit - in die Genre-Literatur herein. Die mehrfach ausgezeichnete Bonnerin Juli Zeh tut's mit einem Buch, das sich zwar eines dystopischen Szenarios bedient, deswegen aber nicht unbedingt gleich als "Science Fiction-Roman" gelten muss oder kann - und das sich auch nicht so liest, als wäre das die erklärte Absicht der Autorin gewesen.
Blitzsauber ist sie, die Welt des mittleren 21. Jahrhunderts: Die Romaneröffnung lässt kurz den Blick über renaturierte Landschaften und ökologisch strukturierte Siedlungen schweifen. Doch wieder einmal sind die Träume der Väter zu den Albträumen der Söhne geworden, denn blitzsauber und totalhygienisch sei auch der Mensch: Das verlangt die METHODE, eine totalitäre Gesellschaftsordnung mit Fitness-Lächeln. Die Philosophie der METHODE wird im ausgeklügelt ambivalenten Vorwort des Romans - einem Auszug aus dem zentralen Lehrbuch von METHODEN-Mastermind Heinrich Kramer - angerissen: Gesundheit als Zustand des vollkommenen Wohlbefindens wird als soziales Phänomen definiert. Das liest sich in den ersten Sätzen noch wie ein moderner, "ganzheitlicher" Ansatz, kippt aber schnell in eine Richtung, die auch eine ganz andere Auslegung zulässt - und das ist dann genau die, welche die METHODE praktiziert: Wer nicht gesund lebt, schadet dem Gemeinwesen und hat mit Strafe zu rechnen. Genussmittel sind verboten, eine tägliche Quote an Leibesübungen ist verpflichtend vorgeschrieben, Sensoren in der Toilette melden die Zusammensetzung der Ausscheidungen. Die Überwachung der Gesundheitsvorsorge übernehmen der Staat und die Wächterhäuser - eine Neuanwendung des alten Blockwart-Systems.
Wie in vielen Dystopien gerät eine unschuldige und zu Beginn noch unkritische Figur in die Mühlen des Systems: Hier ist es die junge Biologin Mia Holl, deren Bruder Moritz wegen Vergewaltigung ins Gefängnis eingeliefert wurde und dort Selbstmord beging. Mia möchte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden, um ihre persönliche Trauer zu verarbeiten. Doch was eine Privatangelegenheit sein darf, definieren immer noch die powers that be - und so wird Mia wie schon einstens Heinrich Bölls Katharina Blum zum Objekt öffentlichen Interesses und schließlich gar zum Systemfeind hochstilisiert. Zunächst noch ohne ihr Zutun, langsam aber zeigt das Erbe von Moritz - symbolisiert in der idealen Geliebten, einer imaginären Begleiterin Moritz', die Mia von ihm "übernommen" hat - Wirkung. Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann, war Moritz' zentrale Weltsicht, die für das System völlig intolerabel ist. Im Dialog mit der Geliebten und damit dem Gedankengut ihres Bruders macht Mia eine persönliche Wandlung durch - voller Interesse beobachtet von Heinrich Kramer.
Juli Zeh packt eine Menge Unterschiedliches in den kurzen Roman: Satirische Züge - man grüßt sich mit "Santé!" oder flucht "Hol mich der Virus!"; statt der RAF ist die Terrororganisation RAK (Recht auf Krankheit) umtriebig - sind ebenso vorhanden wie stimmige Bilder: Etwa wenn Mia im beschlagenen Spiegel das Muster nachzeichnet, das die Durchlasspunkte auf der Plexiglasscheibe im Gefängnis zeigten. Demgegenüber stehen die Traktat-artigen Monologe und Dialoge, die weite Strecken des Romans ausmachen und ihn recht abstrakt erscheinen lassen. Dass der Roman auf einem Theaterstück basiert, zeigt sich auch an dem nicht immer plausiblen "multifunktionellen" Auftreten des zahlenmäßig beschränkten Personals: Etwa Heinrich Kramer, der im Fernsehen ebenso zuhause scheint wie im Gerichtsgebäude oder bei der persönlichen Recherche in Mias Wohnung, oder Mias drei Nachbarinnen, die wohl die Rolle des Volks einnehmen.
Es wäre leicht, "Corpus Delicti" als Science Fiction-Roman, der ein Amok gelaufenes Gesundheitssystem thematisiert, zu bezeichnen. Dann müsste man ihn in die aktuellen Diskussionen um medial vermittelten Schönheitszwang, "Raucherrechte" (...) und was nicht alles stellen. Man müsste sich fragen, ob Fettleber und Raucherlunge als gesellschaftlicher Entwurf ähnlich konstruktiv sind wie beispielsweise Gedankenfreiheit oder Emanzipation, an denen sich frühere Dystopien abarbeiteten. Und man könnte dann darüber sinnieren, dass jede Zeit eben ihre eigenen Ziele hat, für die sich der Kampf zu lohnen scheint. (Wobei Zeh mit Baumhausbauen, Bauchwehkriegen vom Kirschenessen und Vogeldreck im Haar doch einige recht altbackene Vorstellungen serviert.) - Aber dafür müsste "Corpus Delicti" die erdachte Welt wesentlich detaillierter und plausibler beschreiben - alleine schon das unerklärte weil unerklärbare Verschwinden aller Krankheiten - inklusive der unverwüstlichen Erkältung - steht dem entgegen. Viel eher nutzt Zeh den Anschein eines Science Fiction-Szenarios, um den Konflikt zwischen Individuum und System und den Kampf um die Definitionsmacht darüber, was privat sei, zu thematisieren. Was ja auch nicht uninteressant ist, immerhin.