US-Mediziner Lee B. Reichman über Infektion, Ausbruch der Krankheit und globale Verantwortung

Standard: Warum bezeichnen Sie Tuberkulose (TBC) in einem Ihren Büchern eigentlich als Zeitbombe?

Reichman: Vermutlich ist ein Drittel der Weltbevölkerung mit Tuberkulose infiziert. Viele wissen es nicht, weil die Krankheit nicht ausgebrochen ist. Bei zehn Prozent der Infizierten ist genau das aber irgendwann der Fall, meist wenn das Immunsystem geschwächt ist. Dann wird das Bakterium durch Husten an viele andere übertragen. Wir leben in einer globalisierten Welt, wir reisen, Tuberkulose ist eine ernst zu nehmende Gefahr.

Standard: Ist nicht TBC eine Krankheit der Armen?

Reichman: Natürlich ist sie in erster Linie ein Problem der Dritten Welt, aber wir reisen dorthin, Menschen von dort kommen. Denken Sie an die Staaten Osteuropas, in denen es keine TBC-Programme gab. Dort gibt es die Erkrankung. Sorge ist angebracht.

Standard: Inwiefern?

Reichman: Tuberkulose-Bakterien entwickeln sich langsam, deshalb dauert die Behandlung auch sechs Monate und darf unter keinen Umständen abgebrochen werden.

Standard: Wenn das passiert?

Reichman: Entwickeln sich resistente Formen von TB (MDR-TB), die wesentlich schwieriger und noch länger zu behandeln sind. MDR-TB ist in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks verbreitet. Aber gerade von dort kommen sicher Menschen auch nach Österreich. Oft wird die Erkrankung erst sehr spät erkannt. Das ist problematisch, weil die Ansteckungsgefahr für TBC und MDR-TBC steigt. Diese Dynamik macht globales Vorgehen notwendig.

Standard: Einstweilen gibt es aber wenige Fälle in Österreich?

Reichman: Tuberkulose wurde vor 129 Jahren von Robert Koch entdeckt. Im Vergleich zu damals gibt es heute wesentlich mehr Fälle. Zudem ist das Bakterium mutiert, und es gibt Formen, für die wir keine Behandlung haben. Das ist XDR-TB. Paradox ist, dass wir das Problem ignorieren.

Standard: Warum eigentlich?

Reichman: Weil Menschen nur unmittelbare Bedrohungen ernst nehmen. In den Industriestaaten wird TBC zu Unrecht als Erkrankung von Randgruppen wahrgenommen.

Standard: Wie wirkt die Impfung?

Reichman: Die Impfung schützt nur Kinder vor schweren Formen von Tuberkulose. Erwachsene überhaupt nicht.

Standard: Wie hängen HIV und TBC zusammen?

Reichman: Das Immunsystem eines Gesunden kann TBC in Schach halten. Bei einer HIV-Infektion sinkt die Zahl intakter T-Zellen und lässt damit den TBC-Bakterien freie Fahrt. Insofern begünstigen HIV und TBC einander. Für die Patienten bedeutet es, dass sich beide Erkrankungen und damit ihr Zustand massiv verschlechtern.

Standard: Was ist zu tun?

Reichman: Awareness. Das bedeutet: TBC-Programme etablieren, bessere Diagnostik, mehr Geld für Forschung an neuen Medikamente und Impfungen. Zudem sollten HIV/Aids und TBC auch von den Aids-Aktivisten als gemeinsames Problem betrachtet werden. Das ist in letzter Zeit aber auch passiert. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 21.03.2011)