China Miéville: "Der Krake"
Broschiert, 734 Seiten, € 9,30, Bastei Lübbe 2011
Darf man einen Roman der Urban Fantasy zuschreiben, wenn sein Titelbild keine bewaffnete junge Frau im ärmellosen Leiberl zeigt? Vermutlich nicht, aber zweifelsohne ist der große China Miéville ein Autor der Urbanität. So gut wie alle seine Erzählungen handeln in fantastischen Städten - sei es der Moloch New Crobuzon in den beliebten Bas-Lag-Romanen, das siamesische Zwillingspaar Besźel/Ul Qoma in "Die Stadt & die Stadt" oder London, das in "Un Lon Dun" oder "Spiegelhaut" noch schattenhafte Schwesterstädte zur Seite gestellt bekam, in "Der Krake" aber fantastisch genug geschildert wird, dass es keine solchen Parallelwelten mehr braucht. Teilweise wähnt man sich im Roman übrigens fast wieder in New Crobuzon. - Und die nächste Stadt folgt auf dem Fuße, nämlich die extraterrestrische "Embassytown" im gleichnamigen Roman. Miéville abzuarbeiten (eine lohnende und sehr unterhaltsame Arbeit!) ist ständig mit einem Timewarp-Gefühl verbunden: Immer wenn im englischsprachigen Raum gerade die Diskussionen über das aktuelle Miéville-Buch abgeklungen sind, erscheint auf Deutsch das vorige. So geht's mir jetzt seit drei Romanen, und wenn "Embassytown" erst mal auf Deutsch vorliegt, wird der bemerkenswert produktive Autor mit Sicherheit schon den nächsten Titel veröffentlicht haben. Den Seinen gibt's der Herr eben im Schlaf - wobei der Herr in dem Fall Karl Marx wäre; außer China Miéville käme wohl so schnell kein anderer Autor auf die Idee, einen altägyptischen Uschebti - also eine Statuette, die einem Verstorbenen als Helfer im Jenseits mitgegeben wurde - die Weltrevolution im Totenreich ausrufen zu lassen. Und das ist nur eine der sozialen Unruhen, die in "Der Krake" brodeln.
Zum Romanhelden wider Willen wird der junge Billy Harrow, ein Kurator im Naturhistorischen Museum Londons, dessen Meisterstück die Präparierung eines acht Meter langen Architeuthis-Kalmars war. Und der ist eines Tages verschwunden, samt Behälter und einigen tausend Litern Formalin - dass im Museumsfundus dafür eine eingerexte menschliche Leiche entdeckt wird, fällt daneben kaum noch ins Gewicht. Rasch fühlt sich Billy vom Geschehen restlos überfordert, und tatsächlich fordert der rasante Strudel an Ereignissen auch beim Lesen einige Konzentration. Fragen hätte Billy (und wir mit ihm) genug, doch statt Antworten werden ihm stets nur kryptische Bemerkungen hingestreut, die ihn in seinen nächsten Schritt hineinstolpern lassen, ehe er noch den vorherigen so recht verstanden hat. Zu Billys großer Frustration scheint jeder, dem er begegnet, bei ihm ein Vorwissen vorauszusetzen, das er nicht hat oder an das er zumindest nicht mehr herankommt. Das gilt auch für das schräge Ermittlungsteam des Dezernats für fundamentalistische und sektenbezogene Verbrechen, das sich um den Fall des entführten Kalmars kümmert - unter ihnen eine rüpelhafte Hexe mit Amy-Winehouse-Frisur, die gelegentlich ein unsichtbares Geisterschwein an der Leine mitführt. Und zu allem Überfluss plagen Billy auch noch Ahnungen, dass sich etwas Dunkles zusammenbraut. Eine Spannung liegt über der Stadt - fast scheint es, als hätte der Autor die Riots des heurigen Sommers schon im Vorfeld gespürt.
Miéville entfaltet eine fiktive Welt, in der es vor Untergrundorganisationen, Kopfgeldjäger-Gruppen und miteinander konkurrierenden Weltuntergangskulten nur so wimmelt. So richtig dick kommt es aber erst, als die Post ein kleines Päckchen liefert, das sich so lange entfaltet, bis ihm zwei ausgewachsene Menschen entsteigen ... oder zumindest so etwas Ähnliches: Immerhin lässt einer davon seine Kiefer so weit aufschnappen, dass er einen Freund Billys im Ganzen verschluckt. Goss und Subby heißen diese beiden dämonischen Akteure und wirken ein bisschen von den Dominomännern in Jonathan Barnes' "Königshaus der Monster" abgekupfert. Nicht dass Miéville keine eigenen Ideen hätte, im Gegenteil: Wir staunen über computerunterstütztes Extrem-Origami und Drogenvisionen nach dem Konsum von Kalmartinte, Biomechanoide und eine sprechende Tätowierung, streikende Tiere und einen Geist, der sich nur in figürlichen Darstellungen manifestieren kann (und deshalb schon mal von der Nelson-Statue in eine Plastik-Actionfigur hüpft), Chaosnazis und TV-Serien-Polizisten, die als dienstbare Geister vom Bildschirm herabbeschworen werden. Was, wenn man erst mal im seltsamen, seltsamen Kosmos des Autors gefangen ist, keineswegs komisch, sondern genauso plausibel wirkt wie zu "Engeln" verdichtete Erinnerungen, die sich ihre Quasi-Körper aus Konglomeraten von Museumsmaterial zusammenschustern. "Wunder werden immer gebräuchlicher, Kumpel. Das sind die Enden der Welt." Plural.
Ein Wort noch zum wichtigsten Protagonisten des Romans: Das ist nicht Billy Harrow, und schon gar nicht ist es der Riesenkalmar, dem anfangs noch ein eigener Schwarzschild-Radius des Unheimlichen zugeschrieben wird, der sich im weiteren Verlauf aber als simpler MacGuffin entpuppt. Es ist London selbst, die - buchstäblich - lebendige Stadt: Die Straßen Londons sind steinerne Synapsen, handverdrahtet zum Zweck der Anbetung. Geheime Zeichensysteme, nur von dem zu erkennen, der sie zu lesen versteht. Was Miéville in "Die Stadt & die Stadt" noch als rein von Menschen getroffene semiotische Konvention schildert, wird hier ins Metaphysische überführt; London als Knotenpunkt göttlicher Mächte. Wachsam verfolgen die Londonmantiker die Regungen ihrer Stadt, und wenn ein Haruspex aus ihren Reihen die "Eingeweide" der Stadt für Wahrsagungen beschaut, dann legt er mit dem Betonschneider tatsächlich zuckende Riesenorgane frei. Im großen apokalyptischen Endkampf schickt das Stadtwesen dann seine eigenen Antikörper ins Gefecht und Miéville zertrümmert die Grenze zwischen Abstraktem und Konkretem endgültig: Es ist Urbanität unter Waffen.
Ähnlich barock wie der Requisiten-Fundus ist die Sprache. Um dem Malstrom an Eindrücken gerecht zu werden, wirft Miéville mit Eigenschöpfungen wie Squidität oder Urbopathie, die sich eher gefühls- als verstandesmäßig fassen lassen, nur so um sich, zudem macht er munter Substantive zu Verben, Verben zu Adjektiven undsoweiter. Eine Herausforderung für jeden Übersetzer, nicht nur weil sich ein Wortspiel wie Squidnapping nicht ins Deutsche übertragen lässt. Die langjährige Miéville-Übersetzerin Eva Bauche-Eppers war diesmal leider nicht mehr mit im Boot, dafür hat "Der Krake" offenbar gleich zwei NachfolgerInnen verbraucht. Einige KäuferInnen haben dies bereits beklagt - aber wie gesagt: Einen Text wie diesen in eine andere Sprache zu übertragen dürfte für jeden zur Herausforderung werden, und beim Lesen gilt das ganz genauso.
Ich hätte nie gedacht, dass ich an China Miéville auch mal etwas zu bekritteln haben könnte. Und natürlich ist es das Übliche: der Roman ist zu lang. Ist ja nicht so, dass hier eine ähnlich epische Abenteuerfahrt wie im Doppelroman "Die Narbe"/"Leviathan" unternommen würde. "Der Krake" hat mich unwillkürlich an Gordon Dahlquists "Glasbücher der Traumfresser" erinnert, wo ebenfalls geheime Organisationen unter der Oberfläche einer London ähnelnden Stadt bizarren Praktiken nachgehen. Und Dahlquists Roman war viel zu lang. Beim "Kraken" (im Original 2010 als "Kraken: an anatomy" erschienen) hätte es schon gereicht, die Nebenhandlung um eine - bezeichnenderweise den Namen Marginalia tragende - Bekannte Billys herauszunehmen. Die Kapitel um sie lesen sich, als hätte der Autor eine Novelle in den Roman eingearbeitet, in der das Geschehen aus einer zweiten Perspektive betrachtet wird; letztlich aber ohne große Bedeutung für dessen Ausgang zu haben. - Nichtsdestotrotz ist "Der Krake", ganz wie man's von China Miéville gewohnt ist, eine wilde Parforcejagd, gleichermaßen intelligent, humorvoll und erschreckend. Das wäre mein Vorschlag für eine Neudefinition von Urban Fantasy - aber bis es soweit kommt, bleibt das Feld wohl noch Detektivinnen überlassen, die Dämonen abfackeln und Werwölfe vögeln.