Viel Schnee gibt es auch heute noch.

Info: Stuben

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Heute muss sich niemand mehr vor dem Schnee fürchten. Im Gegenteil: Die Menschen kommen ins Mondschein, um Winter-Wonderland zu erleben. Die Erinnerung an frühere Zeiten wird hier bewahrt.

Foto: Thomas Rottenberg

Die enormen Schneemengen, die im Jänner - vor allem - über den österreichischen Westalpen niedergingen, schrecken Eva-Maria Walch nicht: Zwei Meter Neuschnee und mehr binnen 24 Stunden am Dach? "Das ist eben so im Winter", sagt die junge Frau aus Stuben am Arlberg, zuckt mit den Schultern und lässt ein Lächeln über ihr Gesicht huschen, das vielleicht doch eine Spur Ironie birgt. "Die Leute wollen im Urlaub Winter-Wonderland, aber wenn sie es dann haben, werden sie nach ein paar Tagen nervös." Und zwar dann, wenn Straßen gesperrt werden, Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten sind und Liftanlagen mitunter nicht in Betrieb gehen können.

Am Arlberg kam das Anfang 2012 öfters vor: Lech und Zürs waren mehrmals isoliert, ebenso wie Stuben und St. Christoph. Sogar St. Anton, auf der anderen Seite des Bergmassivs, war mitunter weder per Auto noch per Zug zu erreichen. Und auch wenn das in den vergangenen Wintern kaum je passiert war: Für Einheimische, betont Walch, ist derlei nicht weiter erstaunlich. "Als ich ein Kind war", erinnert sich die die knapp 30-jährige Patronin des Stubener Traditionshotels Mondschein, "war das normal. Da waren wir oft fünf oder sechs Tage eingeschneit."

Letzte Station vor der weißen Gefahr

Schuld daran war damals wie heute - im Gegensatz zu dem, was festsitzende Gäste oft unterstellen - keineswegs Unfähigkeit oder Faulheit regionaler Schneeräumdienste, sondern die Lawinengefahr. Die Hanglawinen über den Straßen waren seit jeher die Achillesferse der Verbindung über den Arlberg. Ein Damoklesschwert für Reisende - und Walch weiß ein Lied davon zu singen. Denn auch wenn ihr Hotel - das sie gemeinsam mit ihrem Verlobten Markus Kegele führt - sich seit Beginn dieser Saison als komplett saniertes, helles, modernes und dem heutigen Stand der Publikumswünsche entsprechendes Haus präsentiert, ist die Geschichte des Mondschein nachgerade symptomatisch für den Kampf der Menschen am Berg mit dem Winter, die Angst vor Lawinen und die Suche nach Schutz und sicheren Passagen über Alpenpässe.

Das Mondschein gibt es seit 1739. Viel länger also, als es Wintertourismus und Skifahren als Sport gibt. Und jene Gäste, die einst im Gasthof knapp unter dem Eingang zum gefährlichsten Teil der Arlbergquerung einkehrten, hätten wohl auch fassungslos die Köpfe geschüttelt, hätten sie geahnt, dass 150 Jahre später Menschen eigens wegen des Elementes anreisen würden, das ihnen - zu Recht - Angst machte: Schnee.

Der Gasthof Mondschein war der letzte Halt auf (halbwegs) lawinensicherem Boden. Stuben liegt zwar im Einzugsgebiet von drei großen Lawinen, ist aber über die Jahrhunderte so positioniert worden, dass die Schneemassen die Wohnhäuser nicht (oder nur alle seltenen und besonders unheiligen Katastrophenjahre) erreichen konnten. Heute schützt eine massive "Stadtmauer" die Ortseinfahrt, "Lawinennasen" (Dämme im Gelände) lenken den Schnee vom Ort weg und Lawinenverbauungen und -sprengungen tun ein Übriges. Dennoch: Dass Stuben bis heute klein und malerisch ist, "verdankt" es seiner Lage. Rund 30 Häuser stehen hier - mehr sicheren Boden kann und konnte man dem Berg nicht abtrotzen.

Riskante Wege für begehrte Ware

Zurück zum Mondschein: Der Gasthof war der Ort, an dem Kaufleute und Händler abstiegen und auf eine "günstige" Lawinensituation warteten - oder hofften. In der Regel bedeutete dies, in der Nacht aufzubrechen. Sternklar war gut, Mondlicht besser, Vollmond ideal. Lawinen kann es zwar immer geben, doch die Gefahr, dass sie abgehen, wird durch die Einwirkung der Sonne alles andere als geringer.

Darüber hinaus war der Weg mit von Pferden und/oder Menschen gezogenen Schlitten über den Pass beschwerlicher, länger und gefährlicher als heute. Die Flexenstraße (die 1,6 Kilometer lange Galerie mit ihren 22 Bögen nach Lech und Warth) gibt es erst seit 1897. Davor führte der Weg am gegenüberliegenden (bis heute auch in normalen Wintern saugefährlichen) Hang von Stuben aus auf den 1.773 Meter hoch gelegenen Flexenpass.

Auch die Straße über den Berg, die bereits im 14. Jahrhundert erstmals als Fuhrweg Erwähnung fand, war alles andere als "safe". Doch um - vor allem - Salz durch Europa zu transportieren, nahm man auch die größten Gefahren auf sich. Der einzig sichere "Hafen" auf der Strecke stammt daher auch aus jener Zeit: Das "Hospiz" in St. Christoph wurde von Heinrich Findelkind 1386 errichtet. Wer es aus eigener Kraft bis hierher schaffte, hatte im Winter über Jahrhunderte hinweg allen Grund, Gott und dem Wetter zu danken. Erst recht dann, wenn man von den Gehilfen oder den Nachfolgern Findelkinds aus dem Schnee gezogen wurde. Hängenbleiben oder Verlaufen im Schnee konnte ebenso tödlich enden.

Die Vorstellung, dass ebendieses Hospiz in St. Christoph dereinst zu einem luxuriösen und traditionsreichen Ort werden würde, an dem man für immens viel Geld just den Winter sucht, wäre Reisenden damals wohl ebenso abstrus und obszön erschienen wie jenen, die in Stuben auf gute Nachtsicht warteten und hofften, sicher bis St. Christoph zu kommen.

Der Weg war auch im Sommer beschwerlich: 1705 wurde jeder Ausbau der Straße kaiserlich untersagt - offiziell, um Lindauer Handelsprivilegien zu schützen, tatsächlich aber vor allem, um militärische Aufmärsche zu erschweren. Doch als im Rheintal ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die Textilindustrie zu florieren begann, wurde die Querung des Passes wirtschaftlich interessant. 1782 begannen Bozner Handelsleute mit der Errichtung der ersten "echten" Passstraße, deren Trasse später mehrmals geändert wurde. Stuben, St. Christoph und St. Anton waren aber lange Zeit Orte, an die Reisende im Winter ihre Hoffnungen und Gebete knüpften.

Das Erwachen neuer Sehnsüchte

Erst um 1860 ließ der Verkehr über den Pass nach, Eisenbahnnetze entstanden. Der Handelsweg über Bayern war zwar länger, aber eben sicher. Erst als 1884 der Arlberg(bahn)tunnel eröffnet wurde, gab es auch im Winter eine sichere Verbindung zwischen Vorarlberg und Tirol - obwohl die Bahnstrecke bis heute in heftigen Wintern lawinenbedingt mitunter gesperrt wird.

Für die Herbergen in Stuben und St. Christoph bedeutete das aber nicht das Aus. Denn der Beginn des 20. Jahrhunderts brachte einen Paradigmenwechsel. Der Berg wurde nun auch im Winter als Ort (städtischer) Sehnsüchte entdeckt. Die historischen Notunterkünfte, Zufluchtsorte und kargen Quartiere mutierten zu Hotels, die bald nicht mehr mit ihrer Schutzfunktion vor dem Schnee warben, sondern heute die archaische Schönheit des Elements in Kombination mit Komfort und Luxus zum Geschäftsmodell gemacht haben.

Die Erinnerung an den Ursprung, an Mühsal und Beschwerlichkeit des Reisens und die permanente Gefahr wird im Mondschein aber keineswegs verborgen: Man ist stolz auf die Tradition - gerade weil sie mit dem Heute so wenig zu tun hat, aber doch die Verbundenheit mit dem Berg und seinem Wesen bezeugt.

Bis zur Komplettsanierung des Hauses im Sommer 2011 hingen in den damals dunklen und mit rustikalen Artefakten im Stil der 70er-Jahre überladenen Gängen Reproduktionen von einigen mittelgroßen historischen Fotos, die das "alte" Reisen über den Berg darstellten. Sie gingen zwischen all den Uralt-Skiern und Melkeimern de facto unter.

Walch und Kegele führen diese Bilder ihren Gästen aber nun quasi lebensgroß vor Augen. Und das schon beim Aufwachen: als raumfüllend großformatige, schwarz-weiße Postertapeten an den Kopfenden der Betten.

Und auch wenn kaum ein Gast diese idyllisch-verklärend wirkenden Bilder als (ohnehin nicht so beabsichtigte) historische Belehrung wahrnimmt, besänftigt ein Blick auf das, was Winter am Berg einst war, dann doch manchen Flachlandbewohner, der nach einem eingeschneiten Tag in "Winter-Wonderland" schon glaubt, er sei hilf- und schutzlos dem Unbill und Wüten des Winters ausgesetzt - nur, weil die Lifte heute nicht laufen. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 26.1.2012)