Dieser Pass gewährt Zugang zum Stadtarchiv Amsterdam - und der zahlt sich aus.

Foto: Klaus Taschwer

"Die Rache der Journalisten an den Politikern ist das Archiv", soll Robert Hochner einmal gesagt haben. Wie viele Archive der 2001 verstorbene Journalist besucht hat, weiß ich nicht. In meinem Fall waren es in den letzten Jahren gut zwei Dutzend im In- und Ausland. Bei so manchem heimischen Archiv dachte ich mir, dass es sich dabei in Wahrheit um die Rache der Bürokratie an den Benutzern handelt. Oder wie es Hochner wirklich formuliert haben soll (auch wenn er es natürlich anders meinte): "Die Rache des Journalisten - und sein Fluch - ist das Archiv."

Gewiss, es gibt auch hierzulande bestens funktionierende, kleinere Archive (ich nenne beispielhaft das der Österreichischen Akademie der Wissenschaften oder das Österreichische Volkshochschularchiv) – und in fast jedem gibt es auch freundliche und hilfsbereite Mitarbeiter. Doch je mehr Archive in den USA, in Großbritannien und Deutschland ich besuchte, desto öfter fragte ich mich, warum Historiker und Geschichtsstudenten so manche heimischen Missstände einfach hinnehmen.

Kafkaeske Gefühle in Wien

Als ich diese Woche schließlich das Stadtarchiv von Amsterdam besuchte, reichte es mir dann endgültig – was zu diesem Text führte. Denn was mir in den Niederlanden widerfuhr, erschien mir wie ein wahr gewordener Traum eines Hobbyhistorikers, der in Österreich immer wieder ein bisschen zu leiden hat. Zum Beispiel zuletzt im Staatsarchiv (Östa) im 3. Bezirk in Wien.

Schon die im Netz zugängliche Benutzerordnung des Östa vermittelt leicht kafkaeske Gefühle und eine Ahnung davon, was den Benutzer vor Ort erwartet. Der Neubau in der Nottendorferstraße ist gleich auf den ersten Blick (und dann innen auf den zweiten) alles andere als einladend. Selten aber doch kommt es vor, dass man das Archiv zu den Öffnungszeiten gar nicht erst betreten kann – wenn nämlich die Rezeption nicht besetzt ist.

Die erste Anmeldeprozedur am Staatsarchiv-Empfang ist noch eher harmlos: Identifikation mittels Personalausweis und persönlichen Angaben. Natürlich kosten die Archivbesuche auch etwas: Die billigste Option ist der Fünferblock um 10 Euro. Dann deponiert man die Sachen im Garderobenraum, um sich für etwaige Bestellungen im eigentlichen Benutzerraum ein zweites Mal ungleich aufwändiger zu registrieren: Das Archiv will schließlich wissen, warum und worüber man recherchiert.

Immerhin ein Glückstreffer

Ist das erst einmal erledigt (man rechne dafür zumindest ein halbes Stündchen), darf man dann bestellen. Nach Akten kann man theoretisch auch online von zuhause suchen. Aber da ist nur ein kleiner Teil erfasst. Ich will unter anderem etwas über die ehemalige "Biologische Versuchsanstalt" in Wien finden, denn die Online-Suche war ergebnislos. In den Verzeichnissen vor Ort, die in Dutzenden Ordnern abgeheftet sind, finden sich dann zufällig doch zwei Kartons, falsch beschriftet und indexiert mit "Biologische Versuchsstation". Ich habe vergessen, wie lange mich die Suche beschäftigte und wie ich auf den Glückstreffer stieß.

Dann endlich darf man per eher kompliziertem Papierformular bestellen, höchstens fünf Aktenbündel auf einmal. Die frühestens am nächsten Tag da sind, weil die Archivalien ja auch erst einmal gefunden und bereitgestellt werden müssen. Hat man es dann in den Tagen darauf in den Lesesaal geschafft und die Akten erhalten, sind sie mit weißen Handschuhen (die gibt es gratis!) durchzublättern. Fotografieren ist strengstens verboten, denn es gibt schließlich zwei Kopierer, die um 20 Cent pro A4-Kopie und natürlich nur mit Münzen arbeiten.

Neue Erfahrung

Doch halt, ich wollte eigentlich von Amsterdam erzählen.

Eine deutsche Kollegin hatte im vollständig online abrufbaren und indexierten Bestandsverzeichnis des Stadtarchivs von Amsterdam Aktenbestände entdeckt, die mit der Wiener Biologischen Versuchsanstalt zu tun haben. Und weil ich ohnehin eine Reise in die Niederlande plante, fragte ich also per E-Mail im Stadtarchiv an, wie das mit den Benutzungsmodalitäten sei.

Die elektronische Antwort kam prompt und lautete sinngemäß: einfach ins Archiv kommen und vor Ort bestellen. Ganz kann ich das nicht glauben und rufe sicherheitshalber an. Diesmal will mir ein Archivmitarbeiter gar weismachen, dass ich meine gewünschten Dokumente rund 20 Minuten nach Bestellung haben würde. Ich verkneife mir die Frage, wie das bei über 30 Kilometern an Beständen – Amsterdam hat das größte Stadtarchiv der Welt – funktionieren soll.

Am Dienstag war ich dann wirklich dort. Das Archiv liegt im Zentrum der Stadt, untergebracht in einem monumentalen, neuadaptierten Ziegelsteinbau aus den 1920er-Jahren. Einlass ist um 10 Uhr, innen ist alles hell, groß und zugänglich. Ich bin der fünfte oder sechste in der Reihe, dennoch erhalte ich meine Gratis-Benützer-Karte (mit einem zusätzlichen w) noch vor 10.10 Uhr. Ich musste dafür bloß Name und Adresse angeben sowie ein amtliches Dokument herzeigen. Zudem kriege ich die Nummer 37 zugeteilt.

Fotografieren strengstens erlaubt

Anschließend gebe ich an einem der zahlreichen Computerplätze meinen Namen, eine Nummer für den Bestand (Fakultät für Medizin der Universität Amsterdam) und dann jeweils eine dreistellige Nummer für jedes gewünschte Aktenbündel an. Ich will bloß sieben Faszikel - 25 (in Worten: fünfundzwanzig) Bestellungen auf einmal wären möglich gewesen. Rund 20 Minuten werde es dauern, bis die Archivalien da sind und die Nummer 37 auf den Leuchttafeln aufscheint, sagt der freundliche Archivar, der dem Erstbenützer bei der Bestellung der ersten Dokumente ein bisschen half.

Es ist 10.19 Uhr. Ich deponiere meine Sachen in der Garderobe, begebe mich ins einladende Café in der großen Eingangshalle zwischen Garderobe und Studiersaal und bestelle einen Tee. Abwarten, denke ich. Um 10.40 Uhr setze ich mich dann in den Studiersaal. 7, 17 und 27 leuchten bereits auf der Tafel. Um 10.44 Uhr kommt dann Nummer 37 dazu: Alle meine bestellten Dokumente sind da. Ich kann es nicht fassen.

Ein Aktenbündel nach dem anderen wird mir lächelnd ausgehändigt. Weiße Handschuhe gibt es keine, dafür ist im Lesesaal sonst alles in Weiß gehalten, hell und freundlich. Die Arbeitsplätze sind mit Artemide-Schreibtischlampen ausgestattet, Fotografieren (ohne Blitz) ist strengstens erlaubt. Ich entdecke großartige Dinge (zumindest für mich) und mache in vier Stunden mehr als 600 Fotos.

Der Vergleich macht sicher

Kopierer sind im Stadsarchief keine zu sehen, Scans des gesamten Materials wären übrigens - auch aus der Ferne bestellbar - auf 300 Euro gekommen. Im Östa würde man dafür mehr als das Zehnfache zahlen. Selbst einfache Schwarzweißkopien (viele meiner gehobenen Schätze waren außerformatig und bunt) hätten mich im Staatsarchiv in Wien rund 150 Euro und wohl etliche zusätzliche Stunden gekostet.

Und vermutlich Nerven. Ich erinnere mich, dass ich bei meinem letzten Besuch in der Nottendorferstraße dummerweise der erste war, der bemerkte, dass einer der beiden Kopierer kaputt war.  Nach zwei Fehlkopien meldete ich den Defekt. Der zuständige Mitarbeiter verkopierte den Rest meiner eingeworfenen Ein-Euro-Münze und bestätigte meine Diagnose. Das Geld in der Maschine gab es trotz Reklamation natürlich nicht retour, weil "da kann man leider nichts machen".

Das einzige, was mich bei meinem Besuch im Stadsarchief Amsterdam etwas kostete, war der Tee im Wert von elf Wiener Fehlkopien. Keine fünf Stunden, nachdem ich das Gebäude zum ersten Mal betreten habe, verlasse ich es mit reicher digitaler Beute und kann mein Glück kaum fassen. Und bedauere ein bisschen, dass im größten und vermutlich besten Stadtarchiv der Welt nur wenige Dokumente aus Wien lagern. (Klaus Taschwer, derStandard.at, 28.4.2013)