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Zur Person: Jeremy Corbyn (55) ist seit 1983 Labour-Abgeordneter für den Wahlkreis Islington North, London.

Foto: Archiv

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Archivbild aus dem Jahr 1998: Corbyn bei einer Gedenkveranstaltung an den "Bloody Sunday" 1972 in Irland.

Foto: EPA /PA/Fiona Hanson

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Corbyn mit Demonstranten, die im November 2001 gegen eine Immunität des chilenischen Diktators Pinochet vor dem Oberhaus in London demonstrierten. Das House of Lords entschied mit einer 3:2 Mehrheit gegen eine diplomatische Immunität.

Foto: Reuters/ Kevin Lamarque
In voraussichtlich weniger als fünf Monaten wird in Großbritannien ein neues Parlament gewählt, die Umfragewerte der regierenden Labour-Partei erholen sich weiter nicht. Der Labour Abgeordnete Jeremy Corbyn sprach im derStandard.at-Interview mit Christa Hager über die Politik Labours, die EU und ein erhofftes Machtvakuum innerhalb der Partei nach dem Rücktritt Tony Blairs.

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derStandard.at: Einige Monate vor den Wahlen ist Labour nach wie vor gespalten. Welches sind die Hauptstreitpunkte innerhalb der Regierungspartei?

Corbyn: Die Philosophie von New Labour ist die einer Unternehmergesellschaft, die punktuelle, jedoch nicht universelle Unterstützung für die sozial Schwachen gewährt. Auch hat es die Regierung verabsäumt, die konservative Steuerpolitik abzuschaffen, die die Reichen noch reicher macht. Auch hat die Regierung das Pensionsalter im öffentlichen Dienst um fünf Jahre erhöht, um die Zahlungen zu reduzieren. Gleichzeitig subventionieren sie das private Pensionssystem.

Besonders in diesen Punkten gibt es einen harten Richtungskampf. Im Juli haben rund 400 Labour-Mitglieder das „Labour Representation Committee“ gegründet, um die Gegner dieses rechten Kurses zu vereinen.

derStandard.at: Was sind die Schwerpunkte dieses Komitees?

Corbyn: Opposition gegen die Besatzung des Irak und die Forderung zur Renationalisierung der Bahn. Außerdem wollen wir die Gewerkschaften in die Partei zurückholen und Arbeitsrechte forcieren. Denn obwohl die Labour-Regierung seit 1997 diesbezüglich einige Änderungen unternommen hat, so gehören die Rechte der ArbeiterInnen in Großbritannien weiterhin zu den Jämmerlichsten in Europa.

derStandard.at: Könnte sich die Labour Partei in Zukunft spalten?

Corbyn: Ich denke nicht. Denn wie man an anderen kleinen linken Parteien sieht, ist ihr Erfolg bei den Wahlen sehr mäßig, auch wenn die Socialist Alliance und Respect in den Großstädten zahlreiche Anhänger haben.

derStandard.at: New Labour setzt großteils mit der Politik der Konservativen fort. Warum?

Corbyn: Labour hat viele Dienstleistungen aus dem öffentlichen Sektor ausgegliedert. Das ist nicht wirklich Privatisierung, denn diese neue Unternehmen werden noch stark vom Staat subventioniert, was das Ganze tatsächlich noch schlimmer macht. Andererseits wurden auch einige Betriebe wieder renationalisiert, wie beispielsweise das Schienennetzwerk der Eisenbahn.

Warum Labour die konservative Politik weiterführt, hat verschiedene Gründe. Einer davon ist sicherlich, daß nach den Wahlniederlagen Ende der 70er und in den 80ern die Rechte innerhalb Labours argumentiert hat, daß eine linke Politik diese Wahlergebnisse verursacht hätte. Nach einem neuerlichen Sieg der Konservativen setzte Labour darauf im Wahlkampf auf den Slogan der Steuererhöhung und spielte die populistische Karte aus. Seitdem verkauft sich die Partei auf Kosten der Wählbarkeit und zerstört so weiter ihre Basis.

derStandard.at: Wie sieht Ihre Prognose für die im Mai stattfindenden Wahlen aus?

Corbyn: Meiner Ansicht nach wird Labour gewinnen, wenn auch mit einer stark reduzierten Mehrheit. Meinungsumfragen und das Ergebnis der letzten Regionalwahlen deuten ebenfalls in diese Richtung.

derStandard.at: Und trotz der offensichtlich unpopulären Politik von Labour.

Corbyn: Einige Aspekte von New Labour sind ziemlich gut angekommen, wie die erhöhten Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitswesen. In meinem Wahlkreis z.B. sind die Ausgaben für letzteres um 100 Prozent gestiegen. Das ist erfreulich. Den größten Schaden hat jedoch sicherlich Blairs Krieg gegen den Irak angerichtet.

derStandard.at: Inwieweit werden der Krieg und die Besetzung im Irak die Wahlen beeinflussen?

Corbyn: Die Konservativen haben für den Krieg gestimmt, die Liberalen haben keine kontinuierliche Linie. Anti-Kriegs Parteien wie Respect, die in erster Linie von der der städtischen muslimischen Bevölkerung unterstützt wird, und die Grünen können sicherlich einige Stimmen dazugewinnen. Aber in der Bevölkerung wird auch sehr wohl unterschieden, welche Labour MPs für bzw. gegen den Krieg im Irak sind. Andrerseits gehen auch viele der chauvinistischen Labour-Rhetorik auf den Leim, wenn von den „glorreichen“ britischen Soldaten in Falluja die Rede ist.

derStandard.at: Ein umstrittener Punkt ist auch die geplante Einführung von Identitätsausweisen.

Corbyn: Es gibt zahlreiche GegnerInnen innerhalb der Labour-Partei. Und auch wenn im Parlament für den Personalausweis gestimmt wird, so wird ein solches Gesetz sicher nicht vor den Wahlen verabschiedet werden. Zudem kann auch das Oberhaus dies noch verhindern.

derStandard.at: Im „Kampf gegen den Terrorismus“ wurde eine Flut von Gesetzen verabschiedet. Zu Recht?

Corbyn: Die ganze Debatte um Identitätsausweise spiegelt die Gesinnung von New Labour sehr gut wider. Denn es geht dabei nicht darum, Terroranschläge zu verhindern, sondern Kontrolle auszuüben. Zu wissen, was die Menschen machen und wo sie sich aufhalten. Es gibt eine sehr ernstzunehmende Zunahme an staatlicher Macht. Das Problem ist, dass es noch keine wirklich große öffentliche Bewegung gibt, die diese Bedrohung der Freiheit thematisiert. Auch ist es für Politiker leicht, mit dem Wort „Sicherheit“ all diese Gesetze rechtzufertigen. Doch die zahlreichen Paragrafen seit 9/11 funktionieren nicht, sie zerstören nur die Rechte und Freiheiten der Menschen.

derStandard.at: Blair hat, auch für den Fall einer Wiederwahl, seinen Rücktritt für Ende 2005 angekündigt. Wer und welche Politik kommen danach?

Corbyn: Auch einem Gordon Brown als nächsten Premier stehe ich nicht sehr enthusiastisch gegenüber. Ich hoffe vielmehr, dass sich durch den Rückzug Blairs Raum für eine politische Debatte öffnen und dass die Linke innerhalb Labours eine gewichtige Rolle spielen wird. Auch angesichts der vermutlich erneut geringen Wahlbeteiligung muss man auch die Frage stellen, wie die Basis zurück gewonnen werden kann, ohne sich populistischer Propaganda zu bedienen.

derStandard.at: Wie erklärt sich das gespaltene Verhältnis zur Europäischen Union?

Corbyn: Die Europäische Union ist hier nicht wirklich ein Thema, die höchste je erzielte Wahlbeteiligung an den Wahlen lag bei 20%. Das Verhältnis zur EU noch immer sehr von der konservativen Ära geprägt, als man sich den USA annäherte und sich Großbritannien in seinem Verhältnis zu Amerika zurück in das 19. Jahrhundert wünschte.

derStandard.at: Gibt es schon einen Zeitpunkt für eine Volksabstimmung zum Euro und zur EU-Verfassung?

Corbyn: Großbritannien wird aller Voraussicht nach beim Pfund bleiben, denn in ökonomischer Hinsicht hat das Land dadurch keine Nachteile, im Gegenteil. Ein Referendum zur Konstitution wird es hier nicht so schnell geben. Aber es kann durchaus auch sein, dass die Verfassung durch die Ergebnisse in Holland, Dänemark und vielleicht auch Frankreich gar nicht zum Einsatz kommen wird.

derStandard.at: Ihr Standpunkt zur EU-Verfassung?

Corbyn: Ich habe große Bedenken, die sich in erster Linie auf ihre Verankerung in ein neoliberales Wirtschaftssystem beziehen. Auf soziale Agenden sowie auf die Bedürfnisse der Bevölkerung wird in der Verfassung nicht eingegangen. (22.12.2004)