Franz Schuh: "Der dicke Mensch unterscheidet sich von anderen Neurotikern dadurch, dass man sieht, dass er ein Neurotiker ist. Die anderen können das besser verbergen."

Foto: Katsey

STANDARD: Herr Schuh, wie geht es Ihnen?

Franz Schuh: Darauf passt aus dem Phrasenvorrat die Antwort: Ich habe Wichtiges zu tun, also keine Zeit, mir eine solche Frage zu stellen.

STANDARD: Diese Antwort sagt aber nichts über Ihr gesundheitliches Befinden.

Schuh: Die Frage "Wie geht's?" begehrt vor allem im Deutschen eine authentische Antwort. "How do you do?" fragt man dagegen nur, um ins Gespräch zu kommen. Im Ernst zu fragen, wie es geht, ist eine kommunikative Pathologie der deutschsprachigen Menschen.

STANDARD: Wenn ich trotzdem wissen möchte, wie es Ihnen geht, würden Sie mir Auskunft geben?

Schuh: Auch wenn Sie mein Arzt wären, würde ich versuchen, Ihnen die Antwort vorzuenthalten. Ein guter Arzt weiß es ohnedies, und einem schlechten kann ich auch nicht helfen. Gesundheit und Krankheit sind ein faszinierendes philosophisches Thema. In unseren Köpfen stehen die Gesunden und die Kranken einander gegenüber wie die "Doppelmassen" aus Canettis Buch Masse und Macht. Viele Kranke sind weggesperrt. Die Krankenhausarchitektur dient dazu, den Kranken ihren Platz anzuweisen. Dass die Spitalsästhetik rein sachlich ist, ist eine Lüge. Sie ist Teil des gesellschaftlichen Sadismus, mit dem die Gesunden die Kranken quälen - mit dieser Hässlichkeit der Möbel und Geräte.

STANDARD: Bevor man die Kranken in hässliche Umgebungen wegsperrt, interessiert mich, wo die Grenze zwischen gesund und krank liegt.

Schuh: Gesundheit merkt man nicht, sie geht in der "Vitalität" auf. Krankheit merkt man sehr. Man erkennt sie daran, dass der Kranke in seiner Kommunikation eingeschränkt ist. Im schlimmsten Fall ist der Kranke "nicht ansprechbar". Je schwerer eine Krankheit ist, desto mehr ist der Leidende auf sie konzentriert. Es gibt Krankheiten, die keine Wahl lassen, man geht in ihnen unter, und es gibt Krankheiten, die man einfach nebenher mitschleppt. Zum Beispiel Männerkrankheiten wie die Prostatitis, die man ein Leben lang hat - obwohl das nicht alle aushalten: Ein Mann mit Prostatitis hat vor Jahren seinen Urologen erschossen. Der Arzt ist als Gesunder auch eine Provokation, ein heilender Sadist, eine gefährdete Person.

STANDARD: In ihrem Text "Das ist die Hölle" (für das Projekt ganymed, Anm.) schreiben Sie vom "Schmerz, der einen zu Matsch macht".

Schuh: Der Schmerz ist einer der auflösenden Kräfte. Nichtschmerz bedeutet, dass es Unterscheidungen gibt zwischen dem, was mir wichtig ist, und dem, was nicht wichtig ist. Das verschwindet in der Isolation durch den Schmerz. Im Schmerzensdusel wird man innerlich zu Brei. Zum Schmerz kommt etwas dazu, das mit der Schmerzursache nichts zu tun hat: Angst. Ich hatte eine spezifische Form von Angstneurose, bei der die Angst erst nachher kommt: Ein Herzinfarkt etwa, der äußert sich in Druck und Schmerz, aber Sie haben nicht damit gerechnet, Sie hatten keine Angst. Dann, nachdem der Herzinfarkt vorbei ist, holen Sie die Angst nach, erleiden eine Angst vor etwas Schrecklichem, das kommen wird (obwohl es schon gewesen ist). Gibt es Menschen, die stark oder stumpf genug sind, dass sie die Tatsache des Krankseins ohne zusätzliche emotionale Belastung bewältigen? Der Tratsch, über den sich viele lustig machen, wenn alte Menschen über ihre Krankheiten reden, ist eine Strategie, die Krankheiten wie Routinen aussehen zu lassen.

STANDARD: Reden Sie gern über Ihre Krankheiten?

Schuh: Was ist am Schmerz, den man hat, mitteilbar? Da muss es eine kommunikative Ethik geben, die besagt, dass man andere mit seinem Schmerz nicht sekkieren soll. Ich behaupte nicht, dass ich mich immer an diese Ethik halte, aber ich halte sie für vernünftig. Die regressive Wiederkehr eines mütterlichen Verhältnisses zu einem anderen Menschen ist für einen Erwachsenen nicht standesgemäß.

STANDARD: Die Gesellschaft funktioniert leistungsorientiert. Allerorten herrscht ein regelrechter Gesundheitsfanatismus.

Schuh: Diese merkwürdige Trennung von Körper und Geist, noch altmodischer, von Körper und Seele, ist wesentlich, auch für den wissenschaftlichen Fortschritt. Wer "nur" das Ganze sieht, sieht die Teile nicht. Die Psyche von der Physis zu trennen und nachzuschauen, wie die Leber von mir ausschaut, ist eine Notwendigkeit. Wer sich aber in dieser Trennung von Körper und Geist ausruht und beruhigen lässt, hat immer ihren Widerspruch in sich, der eine Lösung und eine Erlösung von dieser Trennung unmöglich macht. Was in unserer Kultur schiefgelaufen ist, sagt Michel Foucault: Wir haben keine Liebeslehre, sondern eine Wissenschaft von der Sexualität. Im Gesundheitssystem haben wir eine Wissenschaft vom Körper und zugleich keine Ahnung, wie zu leben sei.

STANDARD: Es gibt ein Zitat von Oscar Wilde, das lautet: "Es kommt drauf an, den Körper mit der Seele zu heilen und die Seele mit dem Körper."

Schuh: Das ist es: Es entstehen auf der Grundlage der Trennung von Körper und Geist Fantasien über die Möglichkeit, diese Trennungen aufzuheben. Am primitivsten in der Wellnesspropaganda, komplex bei Wilde. Es wird etwas beschworen, was nicht funktioniert, weil die Entfremdung uns eingefleischt ist. Das heißt nicht, dass es nicht den einen oder anderen Menschen gibt, der für Momente aus dieser Körper-Geist-Misere rauskommt, vor allem im Rausch, der leider nicht ganz gesund sein soll.

STANDARD: Fitnessboom, Rauchverbot, Diätvorschriften - was sagen Sie zu alldem?

Schuh: Es ist eine merkwürdige Gesellschaft, in der sowohl der Puritanismus als auch der Exzess propagiert wird. Aber was soll man mit seiner Endlichkeit anfangen, außer sie überzustrapazieren? Einerseits jammert man über die Anzahl der Alkoholiker, andererseits ist das Etikett auf der Weinflasche die schönste Werbung. Sowohl der Exzess als auch die Konsumkorrektheit bei Rauschmitteln sind lustfeindlich: Beide sind aus der Balance des möglichen Genusses, einerseits durch die Askese, andererseits durch die Unmäßigkeit. Daraus resultiert die bange Frage: Wie kann man Lust empfinden, ohne krank zu werden?

STANDARD: Gibt es eine Antwort?

Schuh: Nein, weil das Fragen der persönlichen Praktiken sind. Grundsätzlich sollte eine Gesellschaft aber so organisiert sein, dass eine individuelle Balance möglich ist. Die Talibanisierung durch Verbote muss man bekämpfen.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Sämtliche Leidenschaften" gibt es eine Stelle, in der Rudi, ein Bademeister im Kurhaus Schärding, Ihnen die Frage an den Kopf wirft, dass es ihm unverständlich sei, dass ein Mensch, der so eitel ist wie Sie, so fett werden kann.

Schuh: Ja, die Leute haben gelernt, einander im narzisstischen Konkurrenzkampf zu enttarnen, also bloßzustellen. Was Rudi sagt, ist naturgemäß nicht meine Meinung, sondern sie zeigt, dass der dicke Mensch interessiert von außen betrachtet wird. Der dicke Mensch unterscheidet sich von anderen Neurotikern dadurch, dass man von außen sieht, dass er ein Neurotiker ist. Die anderen können das besser verbergen. Die Tatsache, dass man bei aller Eitelkeit bestimmte Dinge nicht mehr im Griff hat, mag einen beschämen. Aber ich setze eine Hoffnung in die Menschen, wenn sogar heute noch ihre Sucht stärker sein kann als ihre Eitelkeit.

STANDARD: Es gibt ja vielfach diesen, oft esoterischen, "Krankheit als Weg" -Ansatz. Ist der richtig beziehungsweise was ist Krankheit eigentlich?

Schuh: Ich könnte sagen: Krankheit ist ein sinnfremder Naturvorgang, und damit basta. Die Idee, dass der Krebs eine Schule des Lebens ist, weil er "Sinn" hat, habe ich nicht. Es ist aber klar, dass bestimmte Krankheiten durch bestimmte Haltungen entstehen, zum Beispiel aus dem Zwang heraus, sich an etwas anzupassen, das man nicht erträgt. Krankheiten können aus dem entstehen, was man nicht lassen kann, weil es einen so freut. Am Ende mag die Krankheit auf unaufklärbare Weise kein Zufall sein.

STANDARD: Hat Krankheit ein Potenzial, insofern als sie überwunden werden kann?

Schuh: Ja, aber dieses Potenzial ist für die Moral nicht operationalisierbar. Man kann niemandem sagen: Es ist gut, dass du krank bist, weil nachher wirst du in vollem Licht erstrahlen. Krankheit ist ein schmerzlicher Teil der Erfahrung von Endlichkeit. Geheilt zu werden ist auch eine Erfahrung, bei der das Leben dich wieder übernimmt. Materialistisch gesagt, erkennst du, dass du reparierbar bist. Die Idioten, die keine Erfahrung von Endlichkeit haben, sollen von mir aus gesund bleiben.

STANDARD: Dass die Gesellschaft so auf die Gesundheit schaut, hat vor allem mit Geld zu tun.

Schuh: Ich hätte nie gedacht, dass ich mit einer einzigen Meinung von Norbert Darabos übereinstimme. Aber er hat es als Fehler der Sozialdemokratie bezeichnet, dass sie sich der Richtung von Tony Blair angeschlossen hat. Die Führungsschicht der Partei ist nicht mehr bereit, den Kampf zu führen, Menschen radikal zu helfen, die sich nicht selber helfen können. Etwa den Kranken. Aber es gibt noch Ansätze der alten Solidarität, denken Sie an die medizinisch erstklassigen Kurheime der PVA.

STANDARD: Haben Sie Vertrauen in Krankenhauspersonal?

Schuh: Ich habe nur die Leute vom Krankenhaus, an die ich mich wenden kann.

STANDARD: Aber es gibt auch Krankenhaus-Verweigerer.

Schuh: Ich habe Leute hochgeschätzt, die am Ende ihres Lebens nicht ins Spital gingen. Für diese Entscheidung braucht man nicht einmal den Ärzten zu misstrauen, sondern man kann mit sich selbst vereinbaren, dass es diesen Zustand gibt, durch den das Leben nicht mehr der höchste Wert ist. Wenn einen die Außenwelt - panisch vor Angst - in eine Gesundheitsapparatur einspannt, dann soll man flüchten dürfen.

STANDARD: Der Kranke gibt für die Literatur immer schon mehr her als der Gesunde. Haben Sie Lieblingskranke der Literatur?

Schuh: Thomas Manns Idee, die Lungenkrankheit zur anthropologischen Prüfung zu machen, bei der herauskommen soll, was der Mensch ist, verstehe ich in meinem Alter. In Manns Zauberberg tritt Hans Castorp aus seinem fiebrigen Milieu heraus, und dann? Dann kommt der Krieg. Indem das so nicht drinsteht, ist es umso präsenter. Was die Krankheit, das Fieber, der Virus den Menschen antut, ist nichts im Vergleich zu dem, was Menschen einander antun.

STANDARD: Ist das Kurhaus Schärding Ihr Zauberberg?

Schuh: Nein, das wunderbare Kurhaus Schärding ist für mich eine Ausrede, dass man mich nicht anrufen darf, weil ich "auf Kur" bin. Das funktioniert großartig. Das Wichtigste ist, dass die Kur den Lebenslauf unterbricht. In meinem Fall ist es ein strukturiertes Unterbrechen einer strukturlosen Existenz. Plötzlich habe ich eine Struktur. Und diese Art von Disziplin ist nützlich, vor allem dann, wenn man sich von ihr etwas merkt.

STANDARD: Können Sie eine Kur empfehlen?

Schuh: Ja, jeder muss sich von sich selbst erholen, und manchmal ist es ernst - so wie bei mir, als ich mit Krücken in Schärding ankam und durch die Arbeit zweier Physiotherapeutinnen ohne Krücken wieder rausging. Ein Wunder: "Ich kann gehen!" Aber es war kein Wunder, sondern Physiotherapie. Kuranstalten haben aber etwas von einer totalen Institution. Die Keller, dort wo Rudi arbeitete, sind unterirdische Folterkammern, die nicht zum Foltern, sondern dem Guttun dienen. Bei totalen Institutionen wird einem die Verantwortung abgenommen. Die eigene Leistung besteht nur darin, ob man danach in der Lage ist, geläutert weiter "an sich zu arbeiten" oder ob man wieder zurückfällt in das, wofür man die Kur benötigte. Hat man selber die Kraft dazu nicht, ist die Entlastung durch die totale Institution eher ein Problem. Kaum ist man draußen, ist man schon wieder kriminell. Das gilt für Gefängnisse und Kuranstalten. (Mia Eidlhuber, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)