Edelweiß, seltene Orchideen und Kräuter säumen den Weg durch die Almidylle am Plöckenpass, Murmeltiere pfeifen um die Wette, schwer drücken Regenwolken auf das oberste Stockwerk des Cellon. Kaum zu glauben, dass hier – mitten in den Karnischen Alpen – jahrmillionenalte Korallenriffe liegen sollen und eine der am heftigsten umkämpften Frontlinien im Ersten Weltkrieg verlief. Ebenso wenig lässt sich erahnen, dass nur knapp oberhalb der Blumenwiesen ein Gletscher liegt.

Am Plöckenpass beginnt der Karrenweg Nummer 147. Auf rund 1.650 Meter Seehöhe zweigen wir vom Weg in Richtung Westen ab und gelangen auf einem serpentinenreichen alten Kriegssteig zur Grünen Schneid (2.086 m) auf der Westschulter des Frischenkofels (Cellon).

Ablagerungen aus Millionen Jahren Erdgeschichte

Ohne uns dessen bewusst zu sein, durchwandern wir Schlüsselstellen der Erdgeschichte: Die Gipfel der Karnischen Alpen lagen vor 360 Millionen Jahren noch im Meer. Und nirgendwo sonst in Europa ist die Fossilwelt so lückenlos und weit zurück ablesbar wie in den Karnischen Alpen; nirgendwo sonst sind die verschiedenen Lebensräume der einstigen Meere so nahe zusammengerückt, dass man sie auf einen Blick in direkter Nachbarschaft im Gelände erkennen kann. Nur hier finden sich Ablagerungen der ehemaligen Lagunen, Riffe, Schelfe und der Tiefsee unmittelbar nebeneinander. Das macht die Region für Geologen zu einem offenen Buch der Erdgeschichte.

Aus der jüngeren Geschichte

Von der Grünen Schneid wandern wir schließlich nach Westen, bis man einem alten Kriegssteig in Richtung Norden folgend ins Grüne Tal gelangt. Immer wieder passieren wir Ruinen aus der vergleichsweise jüngeren Geschichte: Überall sind noch Stellungen und Kavernen aus dem Gebirgskrieg zwischen 1915 und 1918 zu sehen.

Eine Stellungsruine aus dem Gebirgskrieg zwischen 1915 und 1918
Foto: Wikimedia/Felsigel [cc;3.0;by]

Als das Gelände abrupt felsiger wird, legen wir Steinschlaghelme und Klettergurte an. Nun wird der Steig anspruchsvoller, bis zum Gabelekopf (2.289 m) sind einige heikle Stellen zu meistern. Der nur angedeutete Weg ist schwer zu finden und schlängelt sich oft exponiert über Felsbänder, steile Grashänge und Schneefelder um den Kollinkofel herum.

Über Abgründe hanteln

Vor allem auf diesen Abschnitten sind wir froh, dass uns eine Bergführerin aus der Region begleitet. Sie befestigt an mehreren steilen Stellen ein Seil, an dem wir uns über Abgründe hanteln.

Der Eiskargletscher ist Österreichs südlichster Gletscher.
Foto: Wikimedia/Osw [cc;3.0;by]

Das erste Schneefeld gelangt ins Blickfeld, ehe sich der 16 Hektar große Eiskargletscher zeigt. Verborgen liegt er zwischen 2.115 und 2.370 Metern Seehöhe in einer Mulde der insgesamt 1.300 Meter hohen Nordwand des Kellerwandmassivs. Er ist nicht nur der einzige Gletscher der Karnischen Alpen, sondern auch der südlichst gelegene Österreichs. Seine schattige Lage, große Niederschlagsmengen und Lawinen, die häufig aus der Kellerwand auf den Gletscher niedergehen, trugen dazu bei, dass sich dieser Kargletscher so lange in solch geringer Höhe halten konnte.

Ein Gletscher mit Eltern

Seit 1992 vermessen Gerhard Hohenwarter und sein Sohn im Auftrag des Alpenvereins den Gletscher, der ob seiner Lage kaum an Größe verliert. Rührig, mit welcher Leidenschaft sich die beiden um "ihren" Gletscher kümmern: Viermal pro Jahr steigen sie hier herauf, vermessen und beäugen "ihr Baby" mit Sorgfalt. Die von ihnen auf Felsen gemalten Ziffern und Markierungen erinnern ein wenig an die Jahreszahlen, die Eltern auf Türstöcke schreiben, um das Wachstum ihrer Kinder zu dokumentieren.

Der Rückweg verläuft im Wesentlichen auf derselben Route wie der Aufstieg. Auf der Grünen Schneid nehmen wir die Helme und Gurte wieder ab und steigen ohne Stress abwärts. Unsere jetzige Aufmerksamkeit kann der üppigen Alpenflora gelten. Auch das ist ein Thema für sich, denn Edelweiß und Orchideen wie auch die Paradieslilie gedeihen längst nicht mehr überall in den Alpen. (Thomas Rambauske, Album, DER STANDARD, 16.08.2014)