Auch wenn die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen noch aussteht, ist es Zeit, die Tunesier zu beglückwünschen. Anders als in Ägypten, Libyen oder Syrien haben sie den Weg zur Demokratie geschafft. Er war länger als gedacht, schwieriger als gedacht, aber er war bisher erfolgreich.

Mit der neuen Verfassung in der Hand wählte das kleine nordafrikanische Geburtsland des Arabischen Frühlings im vergangenen Monat das Parlament und gestern, Sonntag, den Präsidenten. Am 28. Dezember wird es einen zweiten Wahlgang – eine Stichwahl – zwischen dem Führer der im Oktober siegreichen säkularen Partei Nidaa Tounes ("Ruf Tunesiens"), Béji Caïd Essebsi, und dem bisherigen Übergangspräsidenten Moncef Marzouki geben. Essebsi erreichte je nach Prognosen zwischen 43 und knapp 48 Prozent der Stimmen, Marzouki zwischen 27 und 33 Prozent.

Keine Betrugsverdächtigungen

Tunesien führte diesen ersten Wahlprozess auf Grundlage der neuen Verfassung durch, als wäre das Land schon seit langem demokratisch. Die Wahlaufsicht funktioniert und schreitet ein, wenn es einzuschreiten gilt. Die Verlierer – im Falle der Parlamentswahlen im Oktober die islamistische Ennahda – erkennen ihre Niederlage an, ohne Drama, ohne Betrugsverdächtigungen. Tunesien debattiert und wählt mit erstaunlicher Reife.

Sobald der Staatschef endgültig feststeht, kommt der schwierigste Teil des Übergangs zur Demokratie: die tägliche Arbeit der Institutionen. Die Erwartungen der Bürger sind riesig. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Menschen, ist hoch. Die Demokratie braucht den Aufschwung, um zu beweisen, dass das neue System echte Vorteile bietet. So mancher hat bereits jetzt das Vertrauen in den Arabischen Frühling und die Demokratie verloren und folgt radikalen Predigern. Über 2.500 Tunesier haben sich den radikalen islamistischen Milizen im Nachbarland Libyen, aber auch in Syrien und dem Irak angeschlossen. (Reiner Wandler, derStandard.at, 24.11.2014)