Ein "fortschrittliches" Familienrecht müsste weiter Privilegierungen bestimmter Familienkonstellationen entrümpeln.

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Im Jahr 2015 gab es ein eher wenig beachtetes Jubiläum: 40 Jahre partnerschaftliches Ehemodell. Gemessen an der Alltagsrelevanz war die "Große Familienrechtsreform" eine der bedeutsamsten Reformen der Zweiten Republik und 1975 angesichts der gelebten Geschlechterverhältnisse längst überfällig. Das alte Familienmodell hatte dem Ehemann nicht nur die Letztentscheidungsbefugnis in allen wichtigen Familienangelegenheiten zugewiesen, sondern ihn auch zur wirtschaftlichen Erhaltung der Familie verpflichtet. Mit der "Großen Familienrechtsreform" wurde dieses patriarchale Familienkonzept vom Grundsatz der einvernehmlichen Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse abgelöst. Damit war ein wichtiger Schritt zur Gleichstellung von Männern und Frauen innerhalb der Ehe getan.

In den vergangenen 40 Jahren erfolgten im Recht der (familiären) Nahebeziehungen zahlreiche weitere Neuerungen. Um nur einige zu nennen: der eherechtliche Gleichbeteiligungsgrundsatz ("Halbe/Halbe"), die grundsätzliche Gleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder, die Eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare, die Möglichkeit der gemeinsamen Obsorge nach Trennung oder Scheidung, die Väterkarenz, ein geschlechtergerechteres Familiennamensrecht, die (Stiefkind-)Adoption für gleichgeschlechtliche, eingetragene Paare, die Öffnung der Fortpflanzungsmedizin für lesbische Paare et cetera. Die vom Recht anerkannten familiären Nahebeziehungen sind also vielfältiger geworden. Insbesondere die höchstgerichtliche Rechtsprechung treibt die zunehmende Verabschiedung von heteronormativen und geschlechtsspezifischen Stereotypen von Elternschaft voran.

Das derzeitige Familienrecht – ein Kippbild

Diese Entwicklungen sind allerdings nicht ohne Widersprüche. Das derzeitige Familienrecht ist wie ein Kippbild: Mal scheint das traditionelle Familienmodell (heterosexuelle Kernfamilie durch "natürliche" Zeugung und/oder Ehe gegründet) die Oberhand zu behalten, mal scheint sich ein fortschrittliches Familienrecht durchzusetzen.

Aber was wäre denn überhaupt ein "fortschrittliches" Familienrecht? "Fortschrittlich" wäre jedenfalls ein Familienrecht, das dem Familienbegriff in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention gerecht wird und daher nicht nur Schutz vor (staatlichen) Eingriffen gewährt, sondern auch Privilegierungen bestimmter Familienkonstellationen entrümpelt. In Anbetracht der bisherigen Rechtsprechungsentwicklungen ist für die Zukunft zu erwarten, dass noch bestehende formelle Ungleichbehandlungen – zum Beispiel zwischen den institutionalisierten Familienformen Ehe und Eingetragener Partnerschaft – sukzessive beseitigt werden.

Gleichheitsziele stoßen an Grenzen

Dem Anspruch auf Gleichstellung der Geschlechter wäre allerdings selbst mit einer vollständigen Entdiskriminierung des Familienrechts nicht genüge getan. Denn Gleichheitsziele stoßen an Grenzen, wenn sie sich auf die Ebene formal gleichlautender Rechte Einzelner beschränken. Auf den ersten Blick scheint zum Beispiel das neue Obsorgerecht Väter und Mütter möglichst "gleich" zu behandeln. Ein berechtigter Kritikpunkt lautet aber, dass die Neuregelung zwar eine stereotypenabbauende Absicht verfolge, jedoch aufgrund der strukturellen Geschlechterverhältnisse die tatsächliche Sorgearbeit weiterhin bei den Frauen verbleibe. Symptomatisch für solche Strukturbedingungen sind etwa auch die weiter bestehende geschlechtsspezifische familiäre Arbeitsteilung, der geschlechtlich segregierte Arbeitsmarkt und der Gender Pay Gap.

Über den Tellerrand des Familienrechts hinausblicken

Das Recht der familiären Nahebeziehungen kann daher nicht losgelöst von seinen strukturellen Bedingungen betrachtet werden. Eine fortschrittliche Familienrechtsreform würde also radikal über die Zwecke staatlicher Vorgaben im Bereich der (familiären) Nahebeziehungen nachdenken, vieles der freien Wahl der Beteiligten überlassen und gleichzeitig faktisch schwächer Positionierte schützen und ermächtigen.

Sie müsste aber auch über den Tellerrand des Familienrechts hinausblicken und die wirtschaftlichen Verhältnisse und die damit verknüpften Rechtsgebiete – wie Arbeits-, Sozial-, Finanzrecht – in den Blick nehmen. Da geht es um Fragen ökonomischer Absicherung für alle. Denn nur wenn diese gewährleistet ist, ist sichergestellt, dass zum Beispiel Frauen in der Ehe oder bei einer Scheidung nicht am kürzeren Ast sitzen, wenn es zu (gerichtlich ausgetragenen) Konflikten kommt. Und nur dann ist gesichert, dass ökonomisch schwächere Haushalte nicht benachteiligt sind, wenn Vater und Mutter gleich lange in Karenz gehen.

Geleitet von einer Gesellschaftsvision

Eine Reform familiärer Nahebeziehungen müsste sich zudem von einer Gesellschaftsvision leiten lassen, in der alle gleichermaßen Erwerbsarbeit wie Sorgearbeit leisten können – und dies auch tun.

Und schließlich müsste eine Reform, die emanzipatorische und gleichstellende Wirkung für alle (nicht nur für österreichische/europäische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger) hat, das Migrationsrecht miteinbeziehen. Im Migrationskontext sind nämlich institutionalisierte Familienformen (insbesondere die Ehe) weiterhin privilegiert; das Familienleben gleichgeschlechtlicher Paare ist weniger geschützt; das Aussteigen aus Beziehungen ist unter Umständen mit aufenthaltsrechtlichen Risiken verbunden und Beziehungen, die ethnisierten und kulturalisierten Geschlechterstereotypen widersprechen, laufen Gefahr, in Verdacht einer verbotenen Aufenthaltsehe zu geraten.

Enthierarchisierung der Geschlechterverhältnisse

Rechtsreformen, die sich ausschließlich auf das Familienrecht fokussieren, sind daher zu eng angelegt, wenn es gilt, die Enthierarchisierung der familiären Geschlechterverhältnisse zu erreichen. Geschlechterpolitik ist eben nicht nur Familienpolitik. Das Private ist nämlich auch insofern politisch, als die "privaten" Verhältnisse durch gesellschaftliche Strukturen bedingt sind. Die "Große Familienrechtsreform" ist in ihrer Bedeutsamkeit kaum zu unterschätzen. Mit der Herstellung formaler Rechtsgleichheit konnten wesentliche Aspekte der Geschlechterungleichheit aus dem Weg geräumt werden. Dies darf aber nicht dazu verleiten, sich auf dem Erreichten auszuruhen und zu behaupten, es gebe keine rechtlich gestützte Ungleichbehandlung mehr. Denn wie es mit der Gleichheit nun mal so ist, ist sie nicht erreicht, wenn nur der formell gleiche Rechtsstatus erreicht ist. (Ines Rössl, Caroline Voithofer, 14.1.2016)