'Wie konnten wir so verdammt alt werden?', sage ich zu meinen Gelenken, meinem eisenfarbenen Haar.

Foto: Heribert Corn

Fotos von Patti Smith: "Heute überquere ich das Meer mit dem Ziel, in einem einzigen Bild den Strohhut von Robert Graves einzufangen, die Schreibmaschine von Hesse, die Brille von Beckett, das Krankenbett von Keats."

Foto: Patti Smith / Kiepenheuer & Witsch
Foto: Patti Smith / Kiepenheuer & Witsch
Foto: Patti Smith / Kiepenheuer & Witsch
Foto: Patti Smith / Kiepenheuer & Witsch

Patti Smith, M Train, € 17,99 / 336 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016

cover: Kiepenheuer & Witsch

Mein Vater wurde im Schatten der Bethlehem Steel Mill geboren, als die Mittagssirene ertönte. Damit kam er, im Einklang mit Nietzsche, in der festgesetzten Stunde zur Welt, wenn bestimmten Menschen die Fähigkeit gewährt wird, das Geheimnis um die ewige Wiederkehr aller Dinge zu begreifen. Mein Vater hatte eine wunderbare Art zu denken. Er fand alle Philosophien gleichermaßen wichtig und staunenswert. Wenn man ein gesamtes Universum wahrnehmen konnte, war die Möglichkeit seiner Existenz ziemlich greifbar. So real wie die Riemann-These, wie der Glaube selbst, unbeugsam und göttlich.

Wir wollen im Leben bleiben, selbst wenn die Geister uns versuchen fortzulocken. Unser Vater bedient den Webstuhl der ewigen Wiederkunft. Unsere Mutter spult auf dem Weg ins Paradies den Faden ab. In meiner Gedankenwelt ist alles möglich. Das Leben ist das Fundament der Dinge, der Glaube steht an der Spitze, während der kreative Impuls in der Mitte uns alle durchdringt. Wir stellen uns ein Haus vor, ein Viereck der Hoffnung. Ein Zimmer mit einem einzigen Bett und einer hellen Decke, ein paar wichtigen Büchern, einem Briefmarkenalbum. Die Wände mit den verblichenen Blümchentapeten weichen zurück und verwandeln sich in eine sonnengesprenkelte Wiese mit einem Bach, der sich in einen Fluss ergießt, wo ein kleines Boot mit zwei leuchtenden Rudern und einem blauen Segel wartet.

Als meine Kinder klein waren, entwarf ich solche Schiffe. Ich setzte sie ins Wasser, aber ich bestieg sie nicht. Ich verließ nur selten die nähere Umgebung unseres Hauses. Am Abend sprach ich meine Gebete am Kanal, überdacht von alten langhaarigen Trauerweiden. Was ich berührte, war lebendig. Die Finger meines Mannes, ein Löwenzahn, ein aufgeschürftes Knie. Ich musste diese Augenblicke nicht festhalten. Sie verstrichen ohne ein bleibendes Souvenir. Heute überquere ich das Meer mit dem Ziel, in einem einzigen Bild den Strohhut von Robert Graves einzufangen, die Schreibmaschine von Hesse, die Brille von Beckett, das Krankenbett von Keats. Was ich verloren habe und nicht mehr finde, ist in meiner Erinnerung. Was ich nicht sehen kann, versuche ich mir wachzurufen. Ich folge einer Kette von Impulsen, die an Erleuchtung grenzen.

Den Traum einfangen

Ich war sechsundzwanzig, als ich das Grab von Rimbaud fotografierte. Die Bilder waren nichts Besonderes, zeigten aber meine Mission, die ich längst schon vergessen hatte. Rimbaud starb 1891 im Alter von siebenunddreißig Jahren in einem Krankenhaus in Marseille. Sein letzter Wunsch war, nach Abessinien zurückzukehren, wo er Kaffeehändler gewesen war. Er lag im Sterben, und es war nicht möglich, ihn für die lange Reise an Bord eines Schiffes zu tragen. In seinem Delirium sah er sich zu Pferd in den Hochebenen Abessiniens. Ich besaß eine Kette aus blauen Glasperlen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie stammte aus Harar, und ich hatte vor, sie ihm zu bringen. 1973 besuchte ich seine Grabstätte in Charleville, nahe dem Ufer der Maas, und presste die Perlen tief in die Erde einer Urne, die vor seinem Grabstein stand. Etwas aus seinem geliebten Land in seiner Nähe. Ich sah keinen Zusammenhang zwischen den Perlen und den Steinen, die ich für Genet gesammelt hatte, aber vermutlich entsprangen sie demselben romantischen Impuls. Anmaßend vielleicht, aber nicht über Gebühr. Ich bin an sein Grab zurückgekehrt, und die Urne steht nicht mehr dort, aber ich bin fest überzeugt, dass ich noch derselbe Mensch bin; keine noch so große Veränderung in der Welt kann daran etwas ändern.

Ich glaube an Bewegung. Ich glaube an diese unbekümmerte Kugel, die Welt. Ich glaube an Mitternacht und an die Mittagsstunde. Aber woran glaube ich noch? Manchmal an alles. Manchmal an nichts. Es schwankt wie flirrendes Licht über einem Teich. Ich glaube an das Leben, das eines Tages jeder von uns verliert. Wenn wir jung sind, glauben wir, uns passiert das nicht, wir sind anders. Als Kind dachte ich immer, ich würde nicht erwachsen werden, dass es meine Entscheidung wäre. Und dann wurde mir – erst vor kurzem – klar, dass ich eine Linie überschritten hatte und unbewusst in der Wirklichkeit meiner Chronologie verhaftet war. "Wie konnten wir so verdammt alt werden?", sage ich zu meinen Gelenken, meinem eisenfarbenen Haar. Jetzt bin ich älter als mein Liebster und meine verstorbenen Freunde. Vielleicht lebe ich so lange, dass die New York Public Library mir den Gehstock von Virginia Woolf überlassen muss. Ich würde ihn für sie in Ehren halten, genau wie die Steine in ihrer Tasche. Aber ich würde auch weiterleben und mich weigern, meinen Stift abzugeben.

Ich nahm meine Kette mit dem Kreuz des hl. Franziskus ab, flocht mein noch feuchtes Haar und sah mich um. Zu Hause, das ist ein Schreibtisch. Die Verschmelzung eines Traums. Zu Hause, das sind die Katzen, meine Bücher und meine unerledigte Arbeit. All die verlorenen Dinge, die mich vielleicht eines Tages rufen, die Gesichter meiner Kinder, die mich eines Tages rufen werden. Vielleicht können wir Träumereien nicht lebendig machen oder staubige Reste zurückholen, aber wir können den Traum selbst einfangen und ihn heil und ganz zurückbringen.

Ich rief Cairo, und sie hüpfte aufs Bett. Ich blickte hoch und sah einen einzigen Stern über meinem Oberlicht aufgehen. Ich wollte ebenfalls aufstehen, doch die Schwerkraft machte mir zu schaffen, und ich wurde von den Rändern einer seltsamen Musik erfasst. Ich sah die Hand eines Babys, eine Silberrassel schüttelnd. Ich sah den Schatten eines Mannes und die Krempe eines Stetson. Er spielte mit dem Lasso eines Kindes, kniete sich hin, löste den Knoten und legte es auf die Erde.

- Pass auf, sagte er.

Die Schlange fraß ihren Schwanz, ließ los und fraß weiter. Das Lasso war eine lange Kette aus sich schlängelnden Wörtern. Ich beugte mich vor, um sie zu lesen. Mein Orakel. Ich suchte in meiner Tasche, aber ich hatte weder Stift noch Papier.

- Manche Dinge, hauchte der Cowboy, heben wir für uns selber auf.

Es war die Stunde des Showdowns. Die wundersame Stunde. Ich schützte meine Augen vor dem gnadenlosen Licht, wischte mir den Staub von der Jacke und warf sie über meine Schulter. Ich wusste genau, wo ich mich befand. Ich fiel aus dem Bild und sah, was ich sah. Das gleiche einsame Café, ein anderer Traum. Die sandfarbene Fassade war in grellem Kanariengelb gestrichen, die verrostete Zapfsäule mit etwas bedeckt, das an einen gewaltigen Teewärmer erinnerte. Ich zuckte nur die Schultern und ging hinein, aber der Raum war nicht wiederzuerkennen. Tische, Stühle und Jukebox waren verschwunden. Die knorrige Kieferverkleidung weggerissen, die verblichenen Wände kolonialblau gestrichen und unten weiß abgesetzt. Da waren Kisten mit technischen Geräten, Büromöbel aus Metall und Stapel von Broschüren. Ich blätterte ein paar durch: Hawaii, Tahiti und das Taj Mahal Casino in Atlantic City. Ein Reisebüro irgendwo im Nichts.

Ich ging ins Hinterzimmer, aber Kaffeemaschine, Bohnen, Holzlöffel und Tonbecher – alles verschwunden. Selbst die leeren Mezcalflaschen waren weg. Keine Aschenbecher und keine Spur von meinem philosophischen Cowboy. Ich spürte, dass er auf dem Weg hierher gewesen und beim Anblick des funkelnagelneuen Anstrichs vermutlich weitergezogen war. Ich sah mich um.

Auch mich hielt hier nichts, nicht mal der vertrocknete Kadaver einer toten Biene. Ich dachte mir, wenn ich mich beeile, könnte ich vielleicht noch die Staubwolken sehen, die sein alter Ford-Pickup im Vorbeifahren zurückgelassen hatte. Vielleicht könnte ich ihn einholen und mit ihm fahren. Wir könnten gemeinsam die Wüste durchqueren, ohne Reiseagent.

- Ich liebe euch, flüsterte ich allen, flüsterte ich niemandem zu.

- Liebe nicht leichtfertig, hörte ich ihn sagen und dann seine Schritte auf der festgetretenen Erde.

Wow Café, Ocean Beach Pier, San Diego.

Schließlich ging ich hinaus. Ich ging geradeaus durch das Zwielicht meines Traums. Keine Staubwolken, keine Spur von jemandem, aber das machte nichts. Ich bestimmte selbst über mein Glück. Die unveränderte Wüstenlandschaft: eine lange, sich abwickelnde Papierrolle, die ich eines Tages mit Freude beschriften würde. Ich werde mich an alles erinnern, und dann schreibe ich es auf. Eine Arie auf einen Mantel. Ein Requiem für ein Café. Genau das dachte ich, in meinem Traum, und blickte auf meine Hände. (Patti Smith, Album, 5.3.2016)