Mathias Enard, "Kompass", übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, € 25,70/432 Seiten, Hanser Berlin, 2016.

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Beethoven besaß einen Kompass. Und dieser Kompass zeigt nach Osten. Er zeigt in den Orient. Es ist der Kompass der Erleuchtung, das Artefakt Suhrawardis, des großen persischen Philosophen und ersten Orientalisten. In seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman Kompass erschließt Mathias Enard einen faszinierenden Raum der Begegnung von Orient und Okzident. Anknüpfend an die Liebesgeschichten der Weltliteratur und getragen von einer immensen Recherche, lässt er den Wiener Musikwissenschafter Franz Ritter in einer schlaflosen Nacht mystische Orte, historische Stätten und Vergangenheiten durchwandern.

STANDARD: Monsieur Enard, Ihr neuer Roman offenbart ein weitverzweigtes Netzwerk orientalischer Spuren innerhalb der abendländischen Kultur. Wie kommt es, dass diese Beteiligung des Orients an allem Westlichen jahrhundertelang verleugnet wurde?

Enard: Von Verleugnen würde ich nicht sprechen. Es handelt sich eher um eine Frage des Blickwinkels. Seit dem 18. Jahrhundert ist man sich der Beziehung zum Orient durchaus bewusst. Eingesetzt hat dieser kontinuierliche Austausch zwischen Europa, der arabischen Welt und Persien bereits im Mittelalter. Er schuf diese lange gemeinsame Konstruktion, die Erzählungen, Träume und Erinnerungen hervorbrachte und aus der dieses Phantasma des Orients entstand.

STANDARD: Diente der Orient dem Okzident als Projektionsfläche?

Enard: Das orientalische Paradigma, das man in der Literatur findet, ist eine solche Projektion. Bilder, die in Wahrheit europäische Fantasien sind, werden auf den Orient übertragen. Das hängt mit dem Mangel an Inspiration und Freiheit in den restriktiven Gesellschaften des 19. Jahrhunderts zusammen. Die damalige Sittenstrenge projizierte verbotene erotische Fantasien von sexuell befreiten begehrenswerten Frauen auf weit entfernte Länder. Das kann man aus den Erzählungen der Orientreisenden herauslesen. Bei Gérard de Nervals Bericht Reise in den Orient etwa wird deutlich, wie sehr ihn am Orient die Möglichkeit faszinierte, mehrere Frauen sowie Sklavinnen zu haben. In der Malerei bei Dominique Ingres oder Eugène Delacroix zeigen sich diese Projektionen ebenfalls. Der Mythos vom Harem zum Beispiel ist vor allem ein abendländischer. Das soll nicht heißen, dass es im Orient keine Harems gibt. Aber diese außerordentlich erotische Vorstellung von all den versteckten Frauen, die wollüstig darauf warten, die Wünsche eines Mannes zu erfüllen, wie Ingres es in seinem Türkischen Bad darstellt, ist eine westliche Fantasie.

STANDARD: Aber wurden nicht auch Frauen vom Orient angezogen? Im Roman erzählen Sie von Jane Digby ...

Enard: Viele der Frauen, die im 19. Jahrhundert in den Orient fuhren, taten dies, um sexuelle Freiheit zu finden. In ihren Heimatländern war es ihnen verwehrt, ihre Sexualität frei zu leben. Jane Digby hatte ein beeindruckendes Leben. Nach mehreren Ehen, Scheidungen und Liebesaffären, unter anderem mit einem albanischen Piraten, wurde sie von der viktorianischen Gesellschaft verstoßen. Erst im Orient fand sie ihr Glück. Mit 46 Jahren reiste sie nach Syrien. Dort verliebte sie sich in einen jungen Scheich. Sie lebte mit ihm abwechselnd in der Wüste und in Damaskus. Nahezu dreißig Jahre bis zu ihrem Tod blieb sie mit ihm zusammen.

STANDARD: Balzac nahm sie als Vorbild für seinen Roman "Die Lilie im Tal". Die Orientbegeisterung dieses Schriftstellers, der sich, wie Sie ironisch anmerken, "nur für die Franzosen und ihre Sitten interessiert haben soll", überrascht.

Enard: Balzac ist ein Beispiel dafür, wie das Andere in Gestalt der arabischen Sprache sogar in unserer Literatur gegenwärtig ist. Balzac war mit dem österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall befreundet, wovon auch ein Dialog von Hofmannsthal zeugt. Bei einem Wien-Aufenthalt erhielt er von ihm ein arabisches Fragment, das er als Inschrift in seinen Roman Das Chagrinleder aufnahm. In der ersten Ausgabe erschien davon nur die französische Übersetzung. Aber in der zweiten druckte man den arabischen Originaltext.

STANDARD: Hammer-Purgstall gilt als Wegbereiter des Orientalismus. Was ist darunter zu verstehen?

Enard: Der Orientalismus ist ein komplexes Phänomen. Es beinhaltet Begegnungen und Überschneidungen und durchlief mehrere Veränderungen. Man kann es nicht Traum nennen, aber der Wirklichkeit entspricht es genauso nicht. Es ist auch die Geschichte dieser Projektionen. Die fortwährende Schöpfung von Visionen weckt den Wunsch zu reisen, selbst wenn die Visionen auf der Reise enttäuscht werden. Der Orient ist vor allem eine Richtung. Das ist kein festgefügter Ort. Es findet ein ständiger Dialog statt. Die Richtung bleibt bestehen. Immer gibt es einen Orient. Die große Frage des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war der Traum von Ferne und Exotik, der sich immer weiter weg bewegte.

STANDARD: Was fasziniert Sie am Orient?

Enard: Mich verbindet eine tiefe Beziehung mit dem Orient. Die Entdeckung der Vielfalt und des Reichtums an Kulturschätzen bedeutet mir viel. Ich habe in Syrien, im Libanon, im Irak gelebt. Mich ziehen die arabische und persische Sprache an, und ich habe vieles geschrieben, zu dem mich persische und arabische Dichter der Gegenwart inspirierten. Dazu gehört dieser Roman über diesen Wiener Musikwissenschafter, der sich in einer langen Nacht nicht nur an seine große Liebe erinnert, sondern auch an seine Reisen nach Syrien, in den Iran und die Türkei und davon erzählt, wie ihn der Orient begeistert.

STANDARD: Ihr Protagonist ist krank, und er stellt sich vor, er würde ein Buch "Über die verschiedenen Formen von Wahn im Orient" schreiben. Woher kommt diese Verbindung von Krankheit und Wahn mit dem Orient?

Enard: Da geht es um eingebildete Krankheiten und Geisteskrankheiten. Die Verbindung mit dem Orient ergibt sich aus dem Verlust des Selbst, der diese Krankheiten kennzeichnet. Der Gefahr, sich zu verlieren, ist man auch auf einer Reise ausgesetzt. Der Traum spielt dabei auch eine Rolle. Denn im Traum verändert sich die Wirklichkeit. Und manche Krankheiten bewirken in der Wahrnehmung genau diese Verschiebung der Wirklichkeit, wie sie sich im Traum vollzieht. Wenn man ein Land bereist, von dem man jahrelang geträumt hat, und die Wirklichkeit stimmt nicht mit dem Traumbild überein, dann fühlt sich das ein wenig so an, als würde man krank werden. Genauso ist es, wenn man lange an einem Ort bleibt, sich dem Leben dort völlig hingibt und diesen Traum mit allen Sinnen lebt. Die Rückkehr zur Wirklichkeit gestaltet sich in der Folge äußerst schwierig. Es gibt Reisekrankheiten, von denen vor allem die Orientreisenden heimgesucht wurden.

STANDARD: Wodurch kam die Orientbegeisterung zum Erliegen?

Enard: Ich habe nicht den Eindruck, dass dieser Traum vom Orient zu Ende ist. All die Wünsche, die in der Vergangenheit an den Orient herangetragen wurden, bestehen noch. Das Interesse an der Archäologie und an den alten Zivilisationen und Kulturen ist ungebrochen. Wenn man an die Millionen Touristen denkt, die in die Türkei oder nach Tunesien reisen, sieht man, wie lebendig dieser Orientalismus nach wie vor ist. Was sich verändert hat, ist die Art, wie dieser Traum gelebt wird. In einer globalisierten Welt, in der ein massiver Tourismus stattfindet, ist es leichter, sich von einem Ort zum anderen zu begeben. Die Kulturen sind einander näher. Aber die Leidenschaft ist geblieben. Medien und Internetblogger richteten während der letzten Jahre den Blick hauptsächlich auf die Gewalt und die Zerstörungen, die der politische Islam verursachte. Da gewinnt man in der Tat den Eindruck, dass das heutige Interesse am Orient sich nur auf Fanatismus, Terrorismus und Intoleranz beschränkt. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen Fragen der Grenzen und der Identität. Die Vertiefung der kulturellen Beziehungen und die Millionen alltäglichen Kontakte treten in den Hintergrund.

STANDARD: Sie zeigen in Ihrem Roman zahlreiche historische Verflechtungen auf. Muss die Geschichtsschreibung dem Orient breiteren Raum in der Geschichte Europas geben?

Enard: Alles ist miteinander verbunden. Der Mittlere Osten spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte Europas. Nimmt man andererseits den weltweiten Jihad, zu dem das Deutsche Kaiserreich mit den Österreichern und den Osmanen 1914 in Istanbul aufrief, erkennt man, wie umgekehrt die Rivalitäten zwischen den europäischen Mächten Einfluss auf den Mittleren Osten ausübten. Die Muslime der Welt sollten rebellieren, um in den muslimischen Kolonien Frankreichs, Großbritanniens und Russlands Aufstände auszulösen. Die Österreicher sandten Alois Musil, und von Großbritannien wurde T. E. Lawrence losgeschickt.

STANDARD: Ist der Westen auch für die aktuellen Geschehnisse im Orient verantwortlich?

Enard: Nicht alles entspringt einzig aus historischer Verantwortung. Es gibt in der Geschichte keinen Determinismus. Alles kann sich jederzeit ändern. Gewiss aber kommt der Geschichte bei den bewaffneten Konflikten, die überall auftauchen, eine wichtige Rolle zu. Die Ausbreitung der Terrormiliz IS in Syrien etwa ist eine direkte Folge der militärischen Invasion, die die USA und Großbritannien im Irak durchführten. Die gesamte Führungselite des IS war in amerikanischen Gefängnissen im Irak interniert. Ebenso wenig lässt sich leugnen, dass die Völkerbundmandate und die Interventionen Frankreichs und Großbritanniens im Mittleren Osten nach dem Ersten Weltkrieg die politische Landschaft der Region völlig umgestaltet haben.

STANDARD: "Europa hat den Syrern, Irakern und Ägyptern die Antike unter dem Hintern weggegraben", heißt es im Roman. Hat Europa das gesamte antike Erbe für sich beansprucht?

Enard: Das ist eine Folge der Arbeiten der Orientalisten und Archäologen im Mittleren Osten und in Ägypten seit dem 19. Jahrhundert. Es war nicht so, dass der Wille bestand, die Syrer oder Iraker aus dieser Geschichte auszuschließen. Aber indem die Europäer in den Ruinen von Syrien und dem Irak die Quellen ihrer Zivilisation sahen, entzog das den Syrern und Irakern diese Möglichkeit. Aufschlussreich ist es zu sehen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die modernen Staaten des Orients, Syrien und Irak, die alten Zivilisationen heranzogen, um ihren Nationalismus zu begründen. Da wiederholte sich ein Schema europäischen Ursprungs. Man erkennt klarer, warum der IS, der sich auf den sunnitischen Panislamismus stützt und gegen die Nationalstaaten wendet, diese Ruinen sprengt und sie ihn nicht interessieren.

STANDARD: Die Konstruktion einer europäischen Identität als sympathisches Puzzle von Nationalismen habe alles beseitigt, was nicht in ihre ideologischen Schubladen passe. "Adieu Differenz, adieu Vielfalt", lautet Ihre traurige Bilanz. Ist Europa doch keine so offene Idee, wie man glauben will?

Enard: Einerseits gibt es etwas Offenes, über die Grenzen der europäischen Nationalstaaten Hinausgehendes. Andererseits ist da etwas Ausschließendes. Europa hat ein Bild der Staaten geschaffen, aus denen es besteht. Sie schließen alles aus, was Europa nicht eindeutig nachbildet und als europäisch erkannt wird. Damit hat Europa erneut seine Grenzen hervorgebracht.

STANDARD: "Kompass" verbindet sehr genial Essay und Roman ...

Enard: Ich hatte den Eindruck, einen Roman zu schreiben, der kein direktes Vorbild hat. Ohne Zweifel aber gibt es Schriftsteller, die so etwas bereits vor mir vollbracht haben. Das 20. Jahrhundert war ein langer Strom der Befreiung für den Roman. Kennzeichnend für die Romane im 21. Jahrhundert ist, dass sie alles enthalten können, einen Essay ebenso wie Bilder.

STANDARD: Warum kennen Sie Wien so gut? Haben Sie hier gelebt?

Enard: Nein, aber es ist eine Stadt, für die ich eine Leidenschaft habe und in die ich häufig zurückkehre. Ich kenne sie daher ein wenig. Alles weitere ist Teil der Romanillusion, wahrhaftige Figuren schaffen zu wollen und die Empfindung zu vermitteln, dass der Autor kennt, worüber er schreibt. Ich hoffe, ein Bild von Wien gegeben zu haben, in dessen Szenen sich die Bewohner wiederfinden.

STANDARD: Lesen Sie bei Ihren Wien-Besuchen auch den "Standard", so wie Ihr Protagonist im Café Maximilian?

Enard: Ja, die gestrige Ausgabe halte ich gerade in Händen. Sie befasst sich mit den Themen, die Wien einst zur Porta Orientis werden ließen, mit Migration und der Situation der Menschen, die nach Europa kommen.

STANDARD: Es war Hofmannsthal, der das Bild vom Tor für Wien prägte. Wie sehen Sie das heute?

Enard: Wien bildet von seiner geografischen Lage her einen Grenzraum. Die Stadt war lange Zeit die Metropole des Balkans und ist es noch heute ein wenig. Sie bleibt in einer Angelposition: Wien, das Tor zum Orient oder das Tor zu Europa, je nachdem, von welcher Seite man es sieht.

STANDARD: "Über Indien zu arbeiten würde mir gefallen – über die Darstellungen von Indien in Europa, über die Bilder von Europa in Indien", lassen Sie Ihre Protagonistin am Ende des Romans in einem Brief schreiben. Kündigen Sie damit Ihren nächsten Roman an?

Enard: Nein. Mit diesem Plan von einem Projekt möchte ich dem Leser Ideen zur eigenen Recherche geben. Für mich ist das ein offenes Laboratorium. Ich befasse mich mit einem anderen Thema, das mit den Grenzen Europas zu tun hat. Mich interessiert, wie diese Idee Gestalt angenommen hat. Und ich möchte herausfinden, wie sich diese Grenzen auf der kulturellen Ebene definieren. (Ruth Renée Reif, 3.9.2016)