Bereits der erste Prozess der eben erst etablierten Geschworenenjustiz wurde zu keinem Ruhmesblatt jener Institution, die heute rund um den Globus eine tragende Säule der Justiz darstellt. Wegen des Überfalls auf die Postkutsche von Paris nach Lyon am 27. April 1796, bei dem zwei Menschen ermordet worden waren, wurden sieben Personen hingerichtet, obwohl es nur fünf Täter gegeben hatte. Unter den unschuldig Guillotinierten war der Familienvater und Kaufmann Joseph Lesurques. Ein Zeuge meinte, in dem zufällig im Gerichtsgebäude Anwesenden einen der Raubmörder zu erkennen.

Es war der erste von vielen Fällen falschen Wiedererkennens in der Geschworenenjustiz mit tödlichen Folgen für die Opfer, von Lesurques bis zu Ferdinando "Nicolo" Sacco und Bartolomeo Vanzetti, den beiden italienischen Einwanderern, deren Hinrichtung im Jahre 1927 auf dem elektrischen Stuhl in Massachusetts eine traurige Rolle bei der politischen Entmachtung der US-Arbeiterschaft spielte. Die beiden Anarchisten waren fälschlich des Raubmordes angeklagt. Die Augenzeugin Splaine meinte, Sacco wiedererkannt zu haben, und beschrieb 16 Merkmale von der Länge seiner Haare und dem Schatten seiner Augenbrauen bis zur Größe seiner Hände, obwohl sie den Mann vor einem Jahr nur eineinhalb bis drei Sekunden lang in einem beschleunigenden Auto gesehen hatte.

Tragödien, die den Geschworenen anzulasten sind? Das große Aber: In beiden Fällen haben sich Geschworene geirrt, im Falle Sacco und Vanzetti in einer politisch aufgeladenen Situation und nicht ohne die ungewollte Hilfe eines das Gericht provozierenden Verteidigers. Aber in beiden (und anderen) Fällen waren es die Richter mit ihrer angeblich überlegenen Sachkenntnis und Objektivität, die dafür sorgten, dass aus dem Irrtum der Laienrichter ein Justizmord wurde – die Hinrichtung von Unschuldigen.

Im Falle Lesurques meldete sich die Geliebte eines Angeklagten, die es wissen musste, vor der Verkündung des Urteils beim Gerichtspräsidenten und teilte ihm mit, Lesurques und ein anderer seien verwechselt worden. Gerichtspräsident Gohier, der sich schon in der Verhandlung gegen Lesurques voreingenommen gezeigt hatte, sagte: "Die Verhandlungen sind geschlossen. Es ist zu spät." Auch die Aussage eines Verurteilten vor der Hinrichtung, Lesurques sei verwechselt worden, wurde nicht beachtet.

Im Fall Sacco und Vanzetti, der sich von 1921 bis 1927 hinzog, waren es ebenfalls die Berufsrichter, welche die Korrektur des Fehlurteils gegen besseres Wissen verhinderten. Eine Wiederaufnahme, erklärte der Oberste Gerichtshof, sei auch dann nicht zwingend nötig, "wenn neue Beweise entdeckt wurden, welche die Geschworenen zu einem anderen Wahrspruch veranlassen würden". Was aber ohnehin zweifelhaft ist: "Zum Teufel mit ihnen, man sollte sie auf jeden Fall aufhängen!", soll der Sprecher der Geschworenen zu einem Freund gesagt haben.

Der deutsche Strafrechtler Karl Peters wies bereits in den 1960er-Jahren weit über tausend Fehlurteile der deutschen Justiz zulasten der Angeklagten nach. Liest man den Klassiker Das Fehlurteil im Strafprozeß – Zur Pathologie der Rechtsprechung des deutschen Strafverteidigers Max Hirschberg aus dem Jahre 1960, kommt man unschwer zum Schluss, dass die ach so Sachkundigen um nichts weniger fehlbar sind als die angeblich so Unkundigen aus dem Volk.

Willfährige Richter

Der jüngste Vorschlag, die Berufsrichter sollten an den Beratungen der Geschworenen teilnehmen, scheint mir kein guter Vorschlag, weil auch Richter Vorurteile haben können, die auf diese Weise in die Urteile einfließen könnten. Vor der Französischen Revolution und der Einführung der Geschworenengerichte war die Justiz das Werkzeug der Macht. Als willfährig gegenüber der Macht hat sie sich seither oft erwiesen. Auf grauenhafte Weise in der NS-Zeit, in Österreich bei der Aufarbeitung der NS-Zeit nach 1945, als die Politik das Signal zum großen Unter-den-Teppich-Kehren gab. Aber die Geschichte der Justizirrtümer ist auch voll von Beispielen für die Willfährigkeit von Sachverständigen. Bei einander widersprechenden Gutachten alles Vertrauen in ein Obergutachten zu setzen, das wiederum nur ein Gutachten ist, wäre allzu naiv.

In der Grazer Causa, welche die ganze unnötige Kontroverse ausgelöst hat, haben die Geschworenen getan, wozu Geschworene berufen sind: Sie haben in einer Sache, in der es die hundertprozentige Gewissheit naturgemäß nicht geben konnte, ihrem eigenen Urteil vertraut. Sich zwischen den Meinungen einander widersprechender Psychiater und zwischen einander widersprechenden Darstellungen eines Tatherganges zu entscheiden sind jedoch zwei Paar Schuhe. Im ersten Fall stellt, leider, keine Macht der Erde dem bedauernswerten Laienrichter ein brauchbareres Kriterium zur Verfügung als das im Grazer Prozess erwähnte Bauchgefühl. Er muss entscheiden, mit dem ganzen damit verbundenen Risiko.

Auch bei der Entscheidung über den Tathergang – simpel gesagt: War er oder sie es oder nicht? – entscheidet in der Praxis oft das Bauchgefühl, doch gerade hier hat es absolut nichts zu suchen. Es zählt der lückenlose Beweis und nur der Beweis – was längst nicht immer der Fall ist.

Allein das Wissen, wie viele Geständnisse sich als falsch erwiesen, wie viele Zeugen lügen, wie oft sie sich beim Wiedererkennen eines Täters irrten, dass sich auch Unschuldige in Widersprüche und Lügen verwickeln und wie viele Gutachten Sachverständiger sich als falsch erwiesen, könnte die Zahl der Fehlurteile drastisch verringern. Selbst der einfache Vorschlag, die Geschworenen sollten auf einem Zettel alles notieren, was in ihren Augen für und was gegen die Schuld des Angeklagten spricht, ist jahrzehntealt.

Wer die Treffsicherheit der Justiz verbessern will, sollte überlegen, wie die Kompetenz der Geschworenen erhöht werden kann, statt sie grundsätzlich infrage zu stellen. (Hellmut Butterweck, 6.10.2016)