Der mutmaßliche Anschlag am Montagabend am Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz kommt nicht überraschend: Er ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich die Terrororganisation "Islamischer Staat" den Kampf ihrer "Soldaten" gegen die Ungläubigen im Westen vorstellt. Berlin scheint nun eine weitere europäische Stadt zu sein, die in das Fadenkreuz des Terrorismus geraten ist. Nach den Anschlägen in Paris am 13. 11. 2015, in Brüssel am 22. 3. 2016 und in Nizza am 14. Juli dieses Jahres dürfte nun auch Berlin Erfahrungen mit einem Markenzeichen des IS-Terrorismus gemacht haben.

Hat es sich tatsächlich um einen terroristischen Anschlag gehandelt, war die Vorgehensweise des Attentäters von Berlin im Grunde genommen die gleiche wie in Nizza? Ein Attentäter steuert einen Lkw in eine feiernde Menge. Der Anschlag ist aus mehreren Gründen nicht überraschend: Zum einen hat der sogenannte "Islamische Staat" bereits vor zwei Jahren zu Anschlägen dieser Art aufgerufen. Abu Mohammed al-Adnani, ein Sprecher des IS, rief damals Anhänger im Westen dazu auf, Alltagsgegenstände zu nutzen, um "die Kreuzritter" zu töten, falls man nicht an klassische Waffen wie Sprengstoff oder Schusswaffen kommt. Ungläubige mit dem Auto zu überfahren war auch Teil seines Aufrufs.

Auch in der aktuellen, dritten Ausgabe der vom Al Hayat Media Centre des IS produzierten Zeitschrift Rumiya werden detaillierte Tipps gegeben, welche Fahrzeuge vermieden werden sollten und welche Ziele sich am besten eignen, um es dem Attentäter von Nizza gleichtun zu können. Sogar Beispielbilder von Lkws bzw. Kleintransportern sowie öffentlichen Veranstaltungen ("an excellent target") werden aufgeführt, um zu illustrieren, wie ein möglichst großes Blutbad angerichtet werden kann. Fahrzeuge seien wie Messer, da sie einfach zu beschaffen sind, heißt es da, gleichzeitig seien sie nicht so verdächtig.

Taktische Sicht

Aus einer rein taktischen Perspektive sind Weihnachtsmärkte offensichtlich im Winter ideale Ziele: Orte, an denen sich große Mengen an Zivilisten draußen versammeln und die, im Gegenteil zu Flughäfen oder Sportstadien, relativ schwer zu schützen sind und bisher auch nicht geschützt worden sind.

IS auf dem Rückzug

In der Forschung wird Terrorismus als "Waffe der Schwachen" ("weapon of weak") bezeichnet, er ist ein strategisches Mittel, auf das meistens nichtstaatliche Akteure zurückgreifen, und zwar aus einem Moment der Schwäche heraus. Da sich die Terrororganisation auf ihrem eigenen Territorium auf dem Rückzug befindet und sogar vor dem Aus zu stehen scheint, war auch zu erwarten, dass sich vom IS inspirierte oder organisierte Anschläge in Europa häufen.

Aber es gibt noch einen Grund, warum Angriffe gerade in Europa stattfinden und nicht in Russland oder den USA: Hier verfügt der IS über die nötigen Gelegenheitsstrukturen: geografische Nähe, eine stets wachsende salafistisch-jihadistische Szene, die bereits seit einiger Zeit in europäischen Staaten, aber insbesondere Frankreich, Belgien und auch in Deutschland für die Behörden weitgehend unübersichtlich ist.

Zu diesen Gelegenheitsstrukturen gehören auch individuelle Personen, die mit ein wenig logistischer Hilfe aus der Szene und aus dem Ausland bereit sind, solche Anschläge durchzuführen. Wir wissen noch nicht, wer die Attentäter sind, aus den jüngeren Anschlägen lässt sich jedoch schließen, dass es sich bei den neuen Rekruten meist um wenig gebildete, perspektivlose, oft kleinkriminelle Personen handelt. Bisweilen sind auch Individuen mit psychischen Problemen darunter, im Allgemeinen scheint es sich jedoch um Leute mit wenig ideologischem und religiösem Wissen zu handeln. Dieses Profil unterscheidet sich deutlich von den "klassischen" Terroristen, z. B. den Rekruten der Al-Kaida, die aus allen sozioökonomischen Schichten kamen, in der Regel gut bis sehr gut ausgebildet und zutiefst politisch motiviert waren.

Unkomplizierte Anschläge

Perverserweise passt das neue Profil sehr gut zum neuen Modus Operandi des IS: kleine, billige, unkomplizierte Anschläge, die keine besondere militärische Ausbildung oder Fachwissen voraussetzen, ganz gewöhnliche Messer oder eben Lkws sind ausreichend. Es gab zunächst keine Gewissheit, doch erhärtet sich der Terrorverdacht, würden die Geschehnisse in Berlin den bisher größten islamistischen Terroranschlag in Deutschland darstellen. Er würde den traurigen Höhepunkt einer Reihe von Anschlägen in Deutschland markieren, wie das Attentat von Ansbach am 24. Juli oder die Attacke von Würzburg am 18. Juli dieses Jahres.

Wie stellt sich die Gefährdungslage für Österreich dar? Aus strategischer Sicht wäre ein Anschlag in Österreich schwieriger zu rechtfertigen, da Österreich nicht im gleichen Maß in den Kampf gegen den "Islamischen Staat" involviert ist. Auf der anderen Seite gibt es hier ähnliche Gelegenheitsstrukturen wie in Deutschland, nur in einem geringeren Maß. Der IS ist bekannt dafür, alles für sich zu beanspruchen, sogar Amokläufe. Vermutlich besteht daher in der Nachahmung die größte Gefahr. (Felix Lippe, Daniela Pisoiu, 20.12.2016)