Die politische Führung in der Türkei hat mit der Entlassung von bisher mehr als 100.000 Staatsbediensteten seit der Verhängung des Ausnahmezustands gegen eine Reihe von Menschenrechten verstoßen, erklärt Amnesty International in einer neuen Studie, die später am Montag in Istanbul vorgestellt wird. Ein großer Teil der Entlassungen von Polizisten, Richtern, Lehrern, Journalisten und vielen anderen sei offensichtlich "willkürlich, ungerecht und/oder politisch motiviert", heißt es in dem Bericht der Menschenrechtsorganisation.

Die Massenentlassungen in der Türkei werden in Notstandsdekreten von Präsident und Regierung angeordnet. Amnesty sprach für die Studie mit 33 Entlassenen. Bis auf eine Ausnahme soll keiner von ihnen einen Grund für die Kündigung erhalten haben außer der allgemeinen Beschreibung in den Dekreten.

"Tod als Bürger"

Nach dem Verlust der Arbeitsstelle drohe den Entlassenen zudem der "Tod als Bürger", so warnt Amnesty. Ex-Beamte fänden keine neue Anstellung und dürften die Türkei nicht verlassen. Diese Behandlung entzöge ihnen die Lebensgrundlage und bedrohe auch deren Familien. Die Massenentlassungen richten sich nach Darstellung der türkischen Regierung gegen Anhänger des Predigers Fethullah Gülen. Ihn macht die politische Führung für den vereitelten Putsch vom Juli 2016 verantwortlich.

Ohne Festlegung klarer Kriterien bei den "Säuberungen" konnten Staatsbedienstete aufgrund verschiedener Motive entlassen werden: Abrechnungen, politische Einstellungen, bisweilen gar wegen persönlicher Konflikte am Arbeitsplatz. Bis Ende 2016 waren so zum Beispiel bereits fast 2100 Mitglieder des türkischen Gewerkschaftsdachverbands Kesk gefeuert worden. 372 Unterzeichner der "Petition für den Frieden" – einem Aufruf von Anfang 2016, die Militäroperationen in den Kurdenstädten im Südosten der Türkei zu beenden – hatten bis April dieses Jahres ihre Anstellung an einer Hochschule verloren.

Notstandsdekret

Rechtsmittel gegen die Entlassung einzulegen, ist den Betroffenen derzeit nicht möglich und auf längere Sicht wohl auch nicht erfolgreich, stellt Amnesty fest. Ein Notstandsdekret im April blockierte die gerichtliche Anfechtung von Entlassungen im Rahmen der Massensäuberungen im Staat. Eine im vergangenen Jänner angekündigte Kommission, die sich mit Revisionsanträgen von Einzelpersonen befassen soll, hat noch nicht ihre Arbeit aufgenommen.

Premier Binali Yildirim gab erst vergangene Woche die Namen der sieben Kommissionsmitglieder bekannt. Diese sollen unabhängig sein, wurden aber vom Premiersamt, dem Justiz- und dem Innenministerium sowie vom Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte bestimmt. Zweifel bestehen ebenso am Vermögen dieser Kommission, mit sieben Mitgliedern möglicherweise 100.000 oder mehr Fälle bearbeiten zu können. Auch sind die Kriterien für eine Revisionsentscheidung so unklar wie jene, die zu einer Entlassung von Staatsbediensteten führt. Die Kommission soll ihre Arbeit innerhalb von zwei Jahren erledigen. (Markus Bernath, 22.05.2017)