Demonstranten setzten bei Protestkundgebungen in Caracas das Verwaltungsgebäude des Obersten Gerichts in Brand.

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STANDARD: Generalstaatsanwältin Luisa Ortega bezeichnete unlängst die Demonstrationen als gerechtfertigt, die staatliche Repression als überzogen. Wie bewerten Sie das?

Uzcategui: Wir sehen das als eine Legitimation der Proteste und als eine Aufforderung zur Reinstitutionalisierung des Landes. Viele Institutionen wie der Wahlrat oder der Ombudsmann sind derzeit abhängig von der Regierung. Ortega hat anerkannt, dass es keine Garantien für einen unabhängigen Prozess gibt, weil viele Demonstranten vor Militärgerichten abgeurteilt werden. Außerdem hat sie kritisiert, dass Regierungsfunktionäre das Ergebnis von Ermittlungen vorwegnehmen, was das Vertrauen der Bürger in die Justiz beschädigt. In einem konkreten Fall hat sie die Regierungsthese widerlegt, ein Demonstrant von der Opposition sei erschossen worden. Der junge Mann sei den Ermittlungen zufolge durch eine von einem Nationalgardisten direkt auf ihn abgefeuerte Tränengaspatrone getötet worden.

STANDARD: Angefangen haben die Proteste, weil Maduro das Parlament entmachten wollte. Gibt es überhaupt noch einen Rechtsstaat?

Uzcategui: Die anderen Staatsgewalten fallen der Staatsanwältin in den Rücken; sie versuchen, ihre Kompetenzen zu beschneiden, zum Beispiel durch die Militärgerichtsbarkeit oder eine von der Regierung angekündigte Wahrheitskommission. Das beunruhigt uns sehr, denn das höhlt die Demokratie und den Rechtsstaat weiter aus.

STANDARD: Die Regierung hat gegen die Proteste einen extrem repressiven Aktionsplan namens "Zamora" ins Leben gerufen ...

Uzcategui: Der Plan Zamora ist aus unserer Sicht ein Plan zur militärischen Besetzung des Staatsgebiets mit dem Ziel, Proteste zu verhindern. Das umfasst den Einsatz von Sicherheitskräften, von Militärgerichtsbarkeit und von bewaffneten, regierungsnahen, paramilitärischen Gruppen. Für uns stellt das eine klare Zäsur dar, weg von Demokratie, hin zur Diktatur. Wir dokumentieren das alles. Zum Beispiel auch, dass die meisten Richter nicht den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft folgen. Die Chance, dass die Fälle hier in Venezuela aufgeklärt werden und Gerechtigkeit waltet, sind momentan sehr gering.

STANDARD: Die Regierung sagt, die Opposition sei für die Gewalt verantwortlich ...

Uzcategui: Die Generalstaatsanwältin hat eingeräumt, dass die Mehrheit der Demonstranten friedlich sind. Wir haben festgestellt, dass die Proteste bisher zumeist friedlich verlaufen. Aber sobald die Sicherheitskräfte die Märsche blockieren und angreifen, eskaliert die Situation. Es gab einen dokumentierten Fall, wo Oppositionelle einen vermeintlichen Regierungsanhänger angegriffen haben. Aber bis heute existieren weder Fotos noch sonstige Beweise dafür, dass Oppositionelle Waffen mit sich führen. Die Regierung nutzt deshalb gefälschte Fotos, um die Proteste zu kriminalisieren.

STANDARD: Können Sie ungehindert arbeiten?

Uzcategui: Einige unserer Mitarbeiter haben Todesdrohungen erhalten, und unsere Organisation wird von der Regierung immer wieder als Unterstützer terroristischer Gruppen diffamiert.

STANDARD: Abgesehen von den Protesten: Wie sieht die Menschenrechtsbilanz nach 20 Jahren Sozialismus aus?

Uzcategui: Es gab zwei Phasen. Zwischen 1999 und 2006 wurden auf Basis der neuen Verfassung zahlreiche Gesetze verabschiedet, die Garantien für die Menschenrechte enthielten. Außerdem gab es eine aktive Sozialpolitik zur Verringerung der Armut, die allerdings nicht die strukturellen Gründe der Armut anging. Ab 2007 hat sich die Situation aber verschlechtert, nachdem der inzwischen verstorbene Präsident Hugo Chávez einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" wollte. In dieser Phase wurden Garantien zurückgenommen, hat die politische Diskriminierung zugenommen. Die Errungenschaften lösten sich in Luft auf. Heute lebt etwa die Hälfte der Venezolaner in Armut. (Sandra Weiss, 14.6.2017)