Sebastian Kurz trat als unbeirrbarer Kämpfer auf, wo immer er gebraucht wird – ob bei der Schließung der Balkanroute oder der Einigung der ÖVP.

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Es gab Zeiten, in denen Sebastian Kurz zumindest im kleinen Kreis zugegeben hat, dass er die Welt nicht mehr versteht. Jedenfalls traf das auf die Medienwelt zu: Da war er gerade zum Staatssekretär ernannt worden – mit dem Auftrag zur Integration, der vorher von den meisten Medien und allen einschlägigen Nichtregierungsorganisationen gefordert worden war. Aber als die Regierung Faymann/Spindelegger im Frühjahr 2011 einen Integrationsstaatssekretär im Innenministerium installierte und den neu geschaffenen Posten mit Sebastian Kurz besetzte, kam das nicht gut an.

Ein bisschen Kritik hätte wohl jede Berufung eines schwarzen Integrationsbeauftragten ausgelöst. Erstens weil der ÖVP ohnehin nicht zugetraut wurde, die Integration mit Empathie umzusetzen; zweitens weil das Innenministerium bereits viele Jahre in der Kritik gestanden war, das Fremdenwesen ausschließlich als eine Abwehr aller Fremden zu betreiben.

Und ausgerechnet dort sollte der erst 24 Jahre alte Staatssekretär eine neue Kultur der Integration etablieren? Man hat ihm das nicht zugetraut. Die besondere Schärfe der Kritik war durch das geringe Alter des neuen Regierungsmitglieds bedingt. Eine "Verarschung" sei die Besetzung mit diesem "Profilierungsneurotiker", stand im STANDARD zu lesen, die Krone schrieb nicht viel freundlicher von einem "Denkfehler". Im Kurier wurde schließlich prophezeit, dass Kurz wohl bald so viel Politsprech draufhaben würde wie so manch andere damalige Jungpolitiker im linken Lager.

Unglücklicher Start

Kurz war erkennbar unglücklich über diese Einschätzungen. Dass man ihm keine Chance geben wolle, obwohl er noch ganz am Anfang gestanden sei mit seinem Projekt, beklagte er unter Freunden. Nicht gemocht zu werden war ungewohnt und tat weh.

Ein Trost blieb ihm aber: Wer am Beginn seiner bundespolitischen Karriere derartig negative Bewertungen kassiert, für den kann die öffentliche Wahrnehmung nur besser werden.

Und das wurde sie.

Es begann damit, dass die vom damaligen ÖVP-Chef Michael Spindelegger, der als der Entdecker von Kurz gilt, ausgedachte Rollenverteilung durchaus dem "good cop, bad cop"-Prinzip entsprach: eine harte Innenministerin (das war Johanna Mikl-Leitner) und ein verständnisvoller Staatssekretär aus demselben Haus.

Das freundliche Gesicht

Mit dieser Aufgabenverteilung wurde Kurz nicht nur in der Ausländerpolitik, sondern in der gesamten Wahrnehmung der Mannschaft zum freundlichen Gesicht der ÖVP. Und in der Innenwahrnehmung erlebte Kurz, dass die Medien seine Jugend viel kritischer wahrgenommen hatten als die Bürokratie. Er arbeitete mit Sektionsleitern zusammen, die mehr als doppelt so alt waren wie er – und er lernte dabei, dass in Österreich die Funktion wichtiger ist als das Alter.

Als Staatssekretär war er in der Hierarchie schon ziemlich weit oben – und er nützte die Zeit dafür, nicht nur politisches Profil zu gewinnen, sondern auch persönliches. Es galt, die Bilder vom mit "Geilomobil" durch die Wiener Szene kurvenden Jugendwahlkämpfer vergessen zu machen und das Image eines seriösen, aber im Umgang lockeren Verantwortungsträgers aufzubauen.

Ein stilistisches Detail fiel sofort auf: Selbst auf der Regierungsbank im Parlament oder bei der Angelobung durch den Bundespräsidenten präsentierte sich Kurz mit offenem Hemdkragen – stets schimmerte auch bei offiziellen Terminen durch, dass der Staatssekretär auch Obmann der Jungen ÖVP war. Das änderte sich, als Kurz nach seinen Jahren im Innenministerium von Spindelegger zum Außenminister gemacht wurde: Ab diesem Zeitpunkt repräsentierte er die Republik Österreich – und das tut man eben in Anzug und Krawatte.

Auf dem Weg zur Legende

Noch deutlicher wurde das im heurigen Jahr: Bei Parteiterminen und in den Fernsehdiskussionen während des Wahlkampfs war der Kragen stets offen – wenn es aber darum ging, ein Amt zu repräsentieren, trug Kurz eine Krawatte.

Zielstrebig hatte Kurz da an einer neuen Imagekorrektur gebastelt: Wo es passte, präsentierte er sich als international anerkannter Staatsmann, der sich getraut hat, auch der deutschen Christdemokratin Angela Merkel zu widersprechen. Noch besser: Der Legende nach hat er quasi eigenhändig die Balkan- und die Mittelmeerroute für Migranten geschlossen.

Fototermine als Krawattenträger, etwa mit dem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow oder der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini, kamen natürlich nicht ungelegen. Auf den Plakaten aber war der Hals frei, noch am Vormittag des 15. Oktober. Aber am Nachmittag des Wahlsonntags wurde eine Krawatte umgebunden – im Fernsehen (und auch bei der parteiinternen Feier in Hübners Kursalon) sollte das Bild des Mannes vermittelt werden, der endlich Kanzler werden kann.

Der Weg dahin war von Kurz und seinen engsten Vertrauten minutiös vorbereitet worden.

Der Zeitplan war es nicht. Wenn Kurz sagt, dass er vom Rücktritt des damaligen Parteichefs Reinhold Mitterlehner im heurigen Frühjahr überrascht worden ist, dann ist das – anders als vielfach dargestellt – mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr.

Denn Mitterlehners Rücktritt erfolgte zu einem für Kurz nicht so günstigen Zeitpunkt.

Zwar hatten Kurz und seine Getreuen alle Vorbereitungen getroffen, um die Partei an einem (in weiterer Zukunft vermuteten) Tag X zu übernehmen. Dass sie so bald handeln müssten, dürfte aber nicht eingeplant gewesen sein.

Tatsächlich waren ja die personellen Änderungen im Parteiapparat, die Durchgriffsrechte für den neuen Chef und der Relaunch des öffentlichen Auftritts in Türkis durchaus professionell angelegt – und sie waren auch schlagzeilenträchtig, was Kurz hohe Aufmerksamkeit, hohe Medienpräsenz und daraus resultierend auch hohe Umfragewerte beschert hat.

Es war aber in den folgenden Monaten für die als "neue Volkspartei" etikettierte ÖVP nicht so einfach, diese hohen Vorgaben mitsamt dem Neuigkeitswert über den langen Sommer zu retten – in den letzten Tagen des Wahlkampfs ist dann auch einiges an Schwung verlorengegangen.

Anspruch und Wirklichkeit

Aber der Wahlsieg hat gereicht, um den Kanzleranspruch zu stellen. Die Erwartungen waren überzogen: Die Spekulation, dass die Koalition bis zum Nationalfeiertag, also innerhalb von elf Tagen, stehen könnte, trug den Keim der Enttäuschung in sich. Nun hat es doch länger gedauert, im Vergleich mit anderen Koalitionsverhandlungen seit 1945 sogar überdurchschnittlich lang.

Im Schnitt dauerte eine Regierungsbildung nämlich 60 Tage. Dieser Zeitrahmen wurde am Donnerstag dieser Woche überschritten. Immerhin hatten die Verhandler beider Parteien gesagt, dass Qualität vor Tempo gehe – doch Insider der Regierungsgespräche berichten, dass es gerade auf ÖVP-Seite oft an Qualität gemangelt habe.

Dies mag damit zusammenhängen, dass Kurz und sein Team zwar ein Konzept für die Übernahme der Partei entwickelt hatten, dass aber ein ähnlich schlüssiges Konzept für die Übernahme der Regierungsverantwortung ebenso wenig fertig war wie ein entsprechend inhaltlich sattelfestes Verhandlungsteam.

Kein Überraschungsmoment

Da spielt der Zeitfaktor aber doch eine erhebliche Rolle: Gerade in einer breit aufgestellten Partei wie der ÖVP gilt es, in den Verhandlungen Länder- und Bündeinteressen mit zu bedenken. Dafür gibt es zwei Methoden: Entweder macht sich der Spitzenverhandler diese Wünsche zu eigen und versucht, erst einmal in der eigenen Partei einen Kompromiss zwischen den Partikularinteressen zu finden und dann diesen Kompromiss möglichst komplett beim künftigen Koalitionspartner durchzusetzen. Dabei gibt es am Ende mehr Abstriche als Durchgesetztes – was Enttäuschungen in den Parteigliederungen und Kritik am Obmann auslöst.

Der andere Weg führt über rasche Verhandlungen, in denen der Chef das Überraschungsmoment auf seiner Seite hat: ein paar markante Punkte mit dem Koalitionspartner festschreiben und das Ergebnis der übertölpelten Partei als Einigung neuen Stils unterjubeln.

Das wäre ganz nach dem Geschmack des Sebastian Kurz.

Hat aber nicht geklappt. Die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen hatten zwar den Vorteil, dass nicht jedes Thema noch vor einer koalitionären Einigung in der Öffentlichkeit zerredet wurde. Die zizerlweise bekanntgegebenen Einigungen haben aber keinen großen Wurf erkennen lassen.

Enttäuschte ÖVP-Funktionäre

Die Einigung zur Aussetzung des Rauchverbots hat dann die Kritik der enttäuschten (immer noch schwarz gefärbten) Funktionäre herausbrechen lassen: Hat man dem Parteichef sein Durchgriffsrecht gegeben, damit er dann solche Alleingänge macht?

In der ÖVP dämmerte es nun manchen, dass Kurz und sein Verhandlerteam viel zu wenig mit den Routiniers der Partei vernetzt sind. Schon kam der Verdacht auf, dass die Kurz-Truppe vielleicht gar nicht so gut aufgestellt sei wie die Burschenschafterpartie der Freiheitlichen. Jene sind ja, was immer man sonst von ihnen halten mag, immerhin Akademiker mit klaren Vorstellungen.

Kanzler und Parteichef

Kurz hat offenbar unterschätzt, wie viel Skepsis und wie viel Kritik sich da in den eigenen Landesorganisationen aufgestaut hat – das Murren über die Raucherregelung dürfte ihn überrascht haben. So etwas ist meist erstes Anzeichen für eine heraufdräuende Obmanndebatte. Allerdings kennt Kurz die ÖVP gut genug, um zu wissen, dass erfolgreichen Politikern alles vergeben wird.

Endlich Kanzler. Und was nun?

Seine Jahre in der Regierung haben Kurz gelehrt, dass beim Regieren viel Pragmatismus und nur eine kleine Dosis Aktionismus gefragt sind. Seine Jahre in der ÖVP haben ihn gelehrt: Unter erfolgreichen Obleuten gibt es keine Obmanndiskussion – das war auch unter Schüssel so.

Dann spricht eine einige Partei mit einer Stimme. Er weiß: Das wird seine Stimme sein. Und am Erfolg hegt er keinen Zweifel. (Conrad Seidl, 16.12.2017)