"Das ist das dümmste Gesetz, das ich in 34 Dienstjahren gesehen habe", sagt Gerald Niederleithner, Leiter des Wahlamtes der Stadt Krems an der Donau. "Ein unendlicher Verwaltungsaufwand, vor allem für größere Gemeinden und Städte." Der Grund für Niederleithners Ärger ist die Reform des Wahlrechts in Niederösterreich. Das neue Gesetz erlegte den Gemeinden die Plicht auf zu entscheiden, ob Bürger mit Nebenwohnsitz auch wahlberechtigt sind. Doch das Gesetz ist vage gehalten, die Folgen fielen teils chaotisch aus. Das ergab auch eine Umfrage unter der Leserschaft des STANDARD, bei der mehr als 300 Zweitwohnsitzer Auskunft über ihre Erfahrungen mit den Behörden gaben.

Peter M. etwa wohnt seit 66 Jahren in Amstetten. Der 67-Jährige hat in der Wohnung seines Bruders einen Nebenwohnsitz gemeldet. Früher hatte er hier seinen Hauptwohnsitz, heute ist er nur noch "regelmäßig" da, wie er sagt.

Ende Oktober 2017 erhält er einen Brief seiner Stadtgemeinde: Man müsse ihn aus der Wählerevidenz streichen, schreibt ihm Ursula Puchebner (SPÖ), Bürgermeisterin von Amstetten. Die Beurteilung seines ordentlichen Wohnsitzes sei negativ ausgefallen, Peter M. hätte sein Wahlrecht in Niederösterreich verloren, heißt es – zunächst.

Last für die Gemeinden

Auf Nachfrage wird ihm erklärt: "Es hat leider unser Programm einige Personen falsch verknüpft (...), wahlberechtigt sind und bleiben Sie natürlich, und dies wurde im Programm richtig erfasst", antwortet ihm eine Mitarbeiterin der Gemeinde. Alles nur halb so wild?

Eine Gesetzesnovelle in Niederösterreich macht das Wahlrecht zum Glücksspiel.
Foto: der standard

In Österreich räumen nur das Burgenland und Niederösterreich Zweitwohnsitzern das Wahlrecht ein. In Niederösterreich durften sie bisher bei Landtags- und Gemeinderatswahlen automatisch wählen. Wie vor jeder Wahl müssen die Gemeinden aktuelle Wählerverzeichnisse erstellen. Doch diesmal war alles anders.

Probleme für Bürgermeister und Bürger

Die Bürgermeister der 573 niederösterreichischen Gemeinden mussten erstmals entscheiden, welche Zweitwohnsitzer bei der kommenden Landtagswahl ihre Stimme abgeben dürfen – und welche nicht. Das Gesetz schrieb ihnen vor: Personen mit Zweitwohnsitz sollen ihren ordentlichen Wohnsitz und ihr daran geknüpftes Wahlrecht mittels eines sogenannten Wählerevidenzblattes begründen. Doch genau diese Aufgabe bereitete nicht nur den betroffenen Zweitwohnsitzern Probleme, auch die Bürgermeister hatten Schwierigkeiten bei der Entscheidung.

In Amstetten kam es dabei zu einem Fehler bei der Erstellung eines Serienbriefes. Er sei aber "unverzüglich korrigiert" worden, sagt Beatrix Lehner, Stadtamtsdirektorin von Amstetten.

Stadtamtsdirektor: "Es war wirklich nicht lustig"

Was die ÖVP-Abgeordneten des Landtages im Sommer 2017 den Ortschefs auferlegten, war freundlich gesagt: ambitioniert.

Die Zeit wäre zu knapp gewesen, das Gesetz zu unbestimmt, sagen dutzende Bürgermeister, Stadtamtsdirektoren und Amtsleiter im Gespräch mit "Dossier" und STANDARD. Das passierte noch dazu mitten in den Vorbereitungen zur Nationalratswahl, sagt Berndorfs Stadtamtsdirektor Franz Grill. "Es war wirklich nicht lustig."

Tatsächlich gab Niederösterreichs Landtag den Gemeinden lediglich eine Frist von drei Monaten, von Juli bis Ende September 2017, um ihre Nebenwohnsitzer zu befragen und über deren Wahlrecht zu entscheiden.

Referatsleiter: "Hauruck-Aktion"

"Es waren insgesamt fünf Mitarbeiter mit der Umsetzung der Novelle beschäftigt. Sie haben die Arbeit in Form von Überstunden erledigt", sagt Michael Duscher, Amtsleiter von Klosterneuburg. Wolfgang Strasser, Referatsleiter der Abteilung Wahlen in St. Pölten, ärgert sich: "Man muss schon sagen, dass dieses Gesetz nicht sehr wertvoll ist. Das alles war eine Hauruck-Aktion und sehr anstrengend. Das Gesetz ist so vage und feig formuliert, dass man eigentlich alles darunter verstehen kann."

DER STANDARD und "Dossier" kontaktierten dutzende Gemeinden.
Foto: der standard

Peter Anerinhof, Leiter der Abteilung Staatsbürgerschaft und Wahlen des Landes Niederösterreich, kann die Kritik nicht nachvollziehen: "Die Grundlagen und Kriterien für die Beurteilung des ordentlichen Wohnsitzes haben sich durch die Novelle nicht geändert. Die Gemeinden haben das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes so zu beurteilen, wie sie es bereits jahrelang nach den klaren Vorgaben der niederösterreichischen Landtagswahlordnung tun", schreibt er.

Unterschiedliche Vorgangsweisen

Was diesmal neu ist, ist die Verantwortung der Bürgermeister. Sie mussten entscheiden, ob das Wahlrecht wegen eines ordentlichen Wohnsitzes gegeben war. Recherchen von "Dossier" und STANDARD zeigen nicht nur ein Systemversagen aufgrund von Überlastung auf, wie es sich etwa in Amstetten zugetragen hat. Auf fast jeder Ebene gingen die Verantwortlichen unterschiedlich vor.

Wohin den Brief schicken? Wie oft den Brief schicken? Wie oft nachtelefonieren? Auch ohne Mitwirkung mehr zur betreffenden Person recherchieren? Und überhaupt: wählen oder nicht?

"Haben niemanden gestrichen"

In der Stadtgemeinde Retz etwa wurde das Wahlrecht von 350 Personen von insgesamt 850 Nebenwohnsitzern gestrichen – der Großteil fiel aus der Wählerevidenz, weil er das Wählerevidenzblatt nicht retourniert hatte; genauso etwa in den Gemeinden Annaberg, Berndorf, Krems an der Donau und Semmering.

In Puchenstuben und St. Anton an der Jessnitz war das jedoch kein Ausschlussgrund, auch nicht in St. Pölten. In Niederösterreichs Hauptstadt wurde kein einziger Zweitwohnsitzer aus dem Wählerverzeichnis entfernt. "Wir haben niemanden gestrichen, den wir nicht erreicht haben. Solange keine 100-prozentige Sicherheit oder ein Kontakt zu der Person hergestellt war, haben wir sie in der Evidenz gelassen", sagt Wolfgang Strasser, zuständiger Referatsleiter.

Schwierige Grenzen

Unübersichtlich wurde es vor allem dann, wenn die Gemeinden versuchten, anhand der versandten Fragebögen die Grenze zu ziehen: Reicht es, eine Wohnung zu mieten, muss man am Feuerwehrball teilgenommen haben, müssen die Kinder in der Gemeinde zur Schule gehen? In Mitterbach am Erlaufsee reichte es nicht, ein Büro in der Gemeinde zu haben, in der Stadtgemeinde Retz schon.

In Niederhollabrunn bittet man um Verständnis: "Was da an Antworten zurückgekommen ist, war oft sehr unkonkret. Die Entscheidung des Bürgermeisters konnte nicht immer eindeutig und leicht getroffen werden", sagt Amtsleiter Christian Lachmann. Er sieht die Verantwortung beim Gesetzgeber: "Das ist alles so vage formuliert, da kann man vieles darunter verstehen. Ein konkreter Kriterienkatalog für die Beurteilung wäre wünschenswert gewesen."

Nicht nur Gemeindebedienstete waren überfordert, auch unter Zweitwohnsitzern herrschte Unsicherheit: In Krems mit rund 4.300 Nebenwohnsitzern gab es gleich "mehrere Hundert Anrufe von verwirrten Bürgern", sagt Wahlamtsleiter Gerald Niederleithner. "Wir haben dazu eine eigene Hotline eingerichtet, die zwei Mitarbeiter vier Wochen betreut haben. Die Leute hatten keine Ahnung, was das Wählerevidenzblatt überhaupt ist. Die Aufklärung ist durch uns erfolgt", sagt er.

Unbekannte Zahlen

Was am 22. Juni 2017 in Niederösterreichs Landtag begann, fand am 22. Dezember 2017 sein vorläufiges Ende. Um 17 Uhr, am Freitagnachmittag vor Weihnachten, präsentierten die Verantwortlichen das Ergebnis: Im Vergleich zu 2013 werden bei der Landtagswahl am 28. Jänner insgesamt 18.111 Personen weniger wahlberechtigt sein.

Wie viele Zweitwohnsitzer darunter sind, weiß niemand. Eine Erhebung dieser Zahlen hat die Landesregierung den Gemeinden nicht verordnet. Daher haben viele keine Statistiken darüber geführt, wie viele Personen und aus welchen Gründen sie aus der Evidenz gestrichen wurden.

Keine Zahlen, keine Nachvollziehbarkeit. Peter Anerinhof sagt dazu: "Der eigene Wirkungsbereich der Gemeinden erfolgt völlig weisungsfrei. Die Anordnung der Führung von Statistiken wäre daher nicht zulässig gewesen." (Sebastian Fellner, Mona Kriesch, Marlene Liebhart, Sahel Zarinfard, 10.1.2018)