Grippezeit: Die, die es schon erwischt hat, liegen. Die, die sich noch wehren, schonen sich. Und die, die noch übrig sind, sind eben weniger. "Ja, das merkt man", sagt Stephan Listabarth – und schaut auf die Anmeldeliste: Stehen da sonst meist 20 Namen drauf, sind es heute nur zehn. Und auch wenn ein paar Nasen dann unangemeldet auftauchen und ein paar Angemeldete nicht: Daran, dass Donnerstagabend gelaufen wird, ändert weder der eine noch der andere Umstand etwas. Und daran, dass der 24-Jährige auch mit einem (oder einer) Einzelnen loslaufen würde, besteht kein Zweifel: Das, betont Stephan Listabarth, sei er denen, dem oder der, die kommen, schuldig. Auch und weil der Lauftreff, den er betreut, für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kostenlos und niederschwellig und für den Veranstalter Teil eines ausgeklügelten Marketing- und Community-Konzepts ist: Es geht um Gefühle. Konkret um das, dazuzugehören.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Reihe nach: Stephan Listabarth ist 24 Jahre alt. Er ist Medizinstudent und Läufer. Listabarth gilt als eine der Hoffnungen der heimischen Laufszene – und wird im April beim VCM seinen allerersten Marathon in Angriff nehmen. Mit 24 ist der Sieger des "Sie + Er"-Laufs (im Bild mit seiner Laufpartnerin Vera Mair) für die Langdistanz eigentlich jung. Aber "ich habe immer von der Langstrecke geträumt. Die Kombination aus hohem Tempo und langer Strecke ist es, was mich reizt." Geht alles gut, möchte der 15-fache österreichische Meister mit sportlicher Heimat beim DSG Volksbank Wien die 42 Kilometer in etwa 2:20 laufen. Mit dieser Zeit wären viele Normaloläufer schon beim Halbmarathon zufrieden – und der Elitesportler findet das keineswegs belächelnswert: "Genau das ist doch das Wunderschöne am Laufen: Jeder kann mitmachen. Auf der gleichen Strecke, beim gleichen Bewerb und über die gleiche Distanz. Zeig mir einen anderen Sport, wo das möglich ist." Ein sympathischer Zugang. Nur: Darum geht es hier und heute nicht. Oder doch?

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Denn Stephan Listabarth läuft eben auch mit "Normalos". (Fast) jeden Donnerstag um 18 Uhr wartet er mit einem oder zwei anderen Laufcoaches im Wiener Asics Flagshipstore auf Laufwillige und zieht mit ihnen ein mehr als nur brauchbares Programm ab: Nicht von oben herab, sondern so, dass auch weniger Routinierte verstehen, worauf es ankommt. Einlaufen, Lauftechnik, Kräftigungsübungen, Intervalle? Ja eh. Aber das ist nur die Oberfläche. Zentraler ist aber das Gefühl, das Listabarth rüberbringt: dass das, was jede und jeder da tut, zählt. Wert hat. Dass jeder Schritt nach vorne führt: "Ja, es gibt viele Lauftreffs," sagt einer der Teilnehmer, während er nach dem Einlaufen vom Shop zum Heldenplatz im Inneren Burghof brav das "Ministry of Silly Walks" (korrekt: Lauf-Abc) durchexerziert, "aber hier passt es für mich auch menschlich." Ob er dabei die richtige Marke trägt, hat ihn dabei noch nie wer gefragt. Aber irgendwann werden seine Schuhe, sein Gewand auseinanderfallen. Und dort, wo es für ihn menschlich passt, gibt es ja alles, was er braucht – noch dazu emotional glaubwürdig besetzt.

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Das ist kein Zufall, sondern Konzept. Dazugehören, Nestwärme und Community-Management sind heute zentrale Elemente im Image- und Brandmarketing fast aller Labels: Adidas etwa tut mit seinen "Adidas Runners" erfolgreich so, als würde hier nicht ein Megakonzern mit viel Geld- und Materialeinsatz agieren, sondern eine verschworene Clique von Freunden. Labels wie Shops bitten mit "Pros" zu Events, Lauftreffs und Workshops und bauen parallel dazu "Normalos" (zumindest sollen sie so wirken) als Brandambassadore und Markentestimonials auf. Ganz bewusst abseits des Eliteathletensegments: Gerade weil Stephan Listabarths Definition von dem, was Laufen ausmacht, stimmt, erkennen die Marken mehr und mehr, dass es – auch und immer mehr – darum geht, in der eigenen Kommunikation genau diese Kluft zu überbrücken.

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Wer zum Beispiel den Frauenlauf gewonnen hat, weiß schon beim Event kaum eine Teilnehmerin. Aber hier laufen 35.000 Frauen: Alle brauchen Schuhe und Ausrüstung. 95 Prozent der laufenden Männer wissen nicht, wer Weltmeister über zehn Kilometer ist – geschweige denn, welche Schuhe er trägt. Was die Läufer rund um einen anhaben oder tun, ist relevanter: "Kann der Schuh was? Ist das eine gute Uhr? Kann man mit der Jacke im Winter laufen?" Klar: Die Spitze wird bewundert – aber wenn man für den Halbmarathon so lange braucht wie der Sieger über die Volldistanz, erkennt man, welche Welten zwischen Laufen und Laufen liegen. Und orientiert sich auch an denen, die neben einem oder nur um ein Alzerl schneller laufen: nah-, erreich- und ansprechbar. #MeToo – in einer positiven Lesart: Peergroup-Marketing.

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Gerade Asics weiß das genau. Bei der Präsentation des 1765. Schuhs, der angeblich das Laufen neu definieren würde (und es, eh klar, nicht tat), sprachen die Marketingstrategen Klartext: Asics' Selbstdefinition "Marktführer bei Laufschuhen" bezieht sich demnach auf das Hauptfeld bei Laufevents. Man zählt Schuhe an Füßen – und zwar nachdem die Elite vorbei ist: Nur der Pulk zählt. Er ist der Markt. Nicht ohne Grund hat Asics immer noch das Image, mit stark gedämpften Schuhen mit hoher Sprengung (also weit höherer Ferse als Zehen) und viel Stütze technisch unsauber laufende Menschen zu erreichen. Das hat Vor- und Nachteile, ist aber in diesem Zusammenhang nicht wichtig.

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Denn die Japaner haben mehr als Zählungen – ein Markenbotschafterprogramm, das Mitbewerber neidvoll und die meisten Läuferinnen und Läufer sehnsüchtig erblassen lässt: die "Asics Fontrunner". Die "Frontrunner" sind so etwas wie die "chosen few" der Laufwelt. Eine handverlesene Truppe, für die man sich einmal im Jahr bewerben kann – und bei der eben nicht nur dabei sein darf, wer schnell wie oder schneller als Stephan Listabarth ist: Der ist zwar auch ein "Frontrunner", kommt aber aus der Nische der "klassisch" gesponserten Spitzenläufer, die in das knapp 30-köpfige Frontrunner-Austria-Team eingemeindet wurden. Eine Familie eben, in der alle Angehörigen zwar viel und begeistert, aber nicht zwingend ergebnisorientiert super laufen müssen. Ganz nebenbei: Die Frontrunner-Familie sucht derzeit ihre Mitglieder für 2018. Bis 11. Februar kann man sich bewerben.

Foto: Frontrunner

Der primäre Benefit? "Yeah, geil, Laufschuhe und Klamotten bis zum Umfallen" schreibt etwa der deutsche Blogger Jan Peiniger in seinem Resümee über sein erstes Jahr als (deutscher) Frontrunner. Der Warenberg verdeckt aber den Mehrwert: "Vor der Bewerbung kann man einfach noch gar nicht absehen, dass das Equipment vielleicht gar nicht das Geilste an der ganzen Sache ist (…) Was ich mir nicht kaufen kann, sind die Freundschaften, (…) die tollen Menschen, die ich kennengelernt habe, das sind die unvergesslichen Erlebnisse, die ich gemacht habe, und es ist die Freude, das Lachen, die Unterstützung und Motivation die diese total bekloppte Truppe versprüht." Klingt toll. Ist es auch. Bestätigt eine, die heuer das zweite Frontrunner-Jahr angeht: Natascha Marakovits. Laufvernarrte Redakteurin beim "Kurier" – und ebendort als "RunNa" Autorin eines wöchentlichen Lauf-Blogs. "Es ist für mich nach wie vor eine große Ehre, im Team zu sein, und bestärkt mich in dem, was ich tue – meine Leidenschaft fürs Laufen mit anderen zu teilen. Denn genau darum geht es – um die Leidenschaft, die Liebe zum Laufen, den Lieblingssport, der alle Frontrunner miteinander verbindet", erklärt sie mir – und schrieb es so auch im Jänner im "Kurier").

Foto: Nataschsa Marakovits

Dass Asics seine Testimonials nicht per Zufallsgenerator auswählt, ist klar: Stephan Listabarth schätzt, dass sich im Vorjahr über 20.000 Menschen um einen von 20 bis 30 Ö-Plätzen bewarben. Dass da neben Begeisterung auch Reichweite eine Rolle spielt, ist wohl klar: Social Media ist gut, Kolumne ist besser. "Ich bin heilfroh, nicht in der Jury zu sitzen", lacht Listabarth. Auch weil er – wir sind in Österreich – weiß, was auf die Kür folgt: Neid. "Man erkennt sehr schnell, wer es ehrlich mit einem meint", gibt Marakovits unumwunden zu, dass der "Ruhm" seinen Preis hatte. Denn nur die wenigsten Blogger, "Influencer" oder hochglänzenden "Fach"-Medien hierzulande – längst nicht nur beim Laufen – schildern auch nur annähernd komplett oder nachvollziehbar aus, in welcher Form und Gegenwertigkeit sie fürs Begeistert- oder Dabeisein von wem belohnt, entschädigt oder bezahlt werden. Die, die es so wie Marakovits tun, werden dafür abgewatscht: Drei oder vier Paar Laufschuhe, ein paar Leiberln, hin und wieder ein Startplatz – das ist der Bonustrack zu einer in Summe alles andere als gewinnbringenden oder gar lukrativen Leidenschaft: Interessanterweise müssen sich Film-, Buch- oder Theaterrezensenten nie rechtfertigen.

Foto: Asics Frontrunner

Natürlich stimmt bei alledem eines: Das Community-Engagement rechnet sich für die Unternehmen – und wird knallhart evaluiert. Stimmen die Werte nicht, ist das Familienidyll mitunter sehr rasch vorüber. Carola Bendl-Tschiedel etwa war von 2015 bis 2017 "Frontrunnerin" – bis man sie "angeblich auf ‚Order von oben’" ausgliederte. Die Bilanz der hauptberuflichen Bankerin und "Rennsteigkönigin" (also Siegerin des 72-Kilometer Ultra-Trails im Thüringer Wald;ist ambivalent: Hardwear, Community und weit über die Grenzen des eigenen Netzwerkes hinausgehende Bekannt- und Freundschaften verbucht sie auf der Habenseite, unklare Kommunikationsstrukturen und Erwartungshaltungen von Seiten des Konzerns auf der Minusliste. ("Mein Eindruck: Es entwickelte sich in die Richtung, dass Social-Media-Aktivitäten über Laufen 'an sich' gestellt werden.")

Dazu kam die Erkenntnis, dass Österreich bei einem multinationalen Großkonzerns kaum Priorität genießt.: "Teilweise großartige sportliche Leistungen unserer Teammitglieder blieben auf der Frontrunner Teamseite auf Facebook unerwähnt. Da sahen wir schon manchmal mit einem wehmütigen Auge auf die Aktivitäten aus den anderen Ländern, die in weit stärkerem Ausmaß ‚vermarktet‘ wurden." Freilich: Bitter oder böse ist Bendl-Tschiedel nicht. "Warum sollte ich mich ärgern? Ich trage meine Lieblingsstücke weiter."

Foto: Asics Frontrunner

"Too small a country?" Die Frage nach der Wertigkeit Österreichs in Konzernstrukturen ist nicht neu. Jan Böhmermanns Ansage, Österreich sei "klein, unbedeutend, keiner weiß, was es überhaupt soll" in seiner Strache-Parodie im "Neo Magazin Royal" steht nicht ganz auf tönernen Füßen: Bis zur Eröffnung des Wiener Flagshipstores im Herbst gab es Schuhe des Lauf-Marktleaders in Österreich nur in wenigen Läden. Bekleidung? Einzelstücke. Bestenfalls. Die für alle offene Laufgruppe unter Listabarths Führung wurde zwar von Asics finanziert, aber das wusste kaum jemand: Bevor Asics Wien im Herbst auf die eigene Karte setzte, betreute Listabarth die Lauftreffs vom "Runners Point"-Shop aus, ein paar Blocks die Mariahilfer Straße hinunter. In der Szenewahrnehmung war das Coaching daher eine Runners-Point-Serviceleistung. Dass Asics die Treffs dann in den eigenen Laden holte, ist nachvollziehbar – ebenso, dass das an der alten Homebase nicht so super aufgenommen wurde: Da wurden Gefühle verletzt.

Und genau das ist es, worum es geht: Um Gefühle. Um Vertrauen. Um Gemeinschaft. Denn: Einfach für ein Produkt oder eine Marke zu werben, war gestern. Auch beim Laufen. (Thomas Rottenberg, 7.2.2018)

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Blog: Rotte rennt

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