Werden alte, gebrechliche Menschen häufiger ins Heim "abgeschoben"? Der Pflegeregress ist gefallen, die Folgen sind heiß umstritten.

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Von einem "Ansturm" und "Run" ist die Rede, und von explodierenden Kosten als Folge: Seit einigen Wochen, so wird in der Debatte regelmäßig behauptet, könnten sich Pflegeheime neuer Anwärter kaum noch erwehren. Immer mehr alte, gebrechliche Menschen drängten in die Einrichtungen mit Rund-um-die-Uhr-Versorgung – oder würden von Angehörigen dorthin "abgeschoben".

Ausgelöst haben soll den Boom die Abschaffung des sogenannten Pflegeregresses. Bisher mussten Bewohner für die Versorgung im Heim nicht nur das gesamte Pflegegeld bis auf ein "Taschengeld" sowie 80 Prozent der Pension aufwenden, sondern – wenn noch Kosten offen blieben – mit angespartem Vermögen mitzahlen. Kurz vor der Nationalratswahl im Oktober haben die Parlamentsparteien minus Neos diesen Zugriff aufs Hab und Gut ("Regress") abgeschafft. Wer ins Pflegeheim geht, muss seit Jahresbeginn also nicht mehr fürchten, dass sich die öffentliche Hand das Eigenheim oder andere Besitztümer krallt. Das freut natürlich auch die Erben.

Die Welle rollte nicht an

Logisch, dass da die Nachfrage nach Heimplätzen steigt. Oder? DER STANDARD wollte es genau wissen und hat in den Bundesländern, die mit teuren Ausbauprogrammen reagieren müssten, nach konkreten Zahlen gefragt. Bemerkenswertes Ergebnis: Vielerorts ist von dem "Ansturm", der da durch die Diskussionen geistert, bisher nichts zu bemerken.

"Wir sind selbst überrascht", heißt es etwa aus dem Büro des in der Steiermark für die Pflege zuständigen Landesrates Christopher Drexler (ÖVP): "Die Welle an neuen Anträgen, die wir erwartet haben, ist bisher nicht eingetroffen." Im laufenden Jahr sei die Nachfrage nach Plätzen in den 221 Pflegeheimen, wo derzeit gut 12.000 Menschen leben, nur "ganz minimal" angewachsen.

Ähnliches ist im benachbarten Kärnten zu erfahren. Von 5.650 Betten in 82 Heimen seien nach dem Fall des Regresses genauso wie davor im Schnitt etwa 200 verfügbar, rechnet eine Sprecherin von Landesrätin Beate Prettner (SPÖ) vor: "Da hat sich nur minimal etwas getan."

Anderes Land, gleiches Bild: "In Oberösterreich kann man momentan nicht von einem 'Run' auf die Alten- und Pflegeheime sprechen", lautet die Auskunft aus dem Büro der Landesrätin Birgit Gerstorfer, die wegen des dortigen Proporzsystems als sozialdemokratische Vertreterin in einer an sich schwarz-blauen Landesregierung sitzt. Lediglich ein leichter Anstieg zeichne sich bei den Anmeldungen für die Heimplätze, von denen es gut 12.500 gibt, ab; für eine konkrete Beurteilung der Folgen des Regressendes sei es aber noch zu früh.

Keine längere Warteliste

Auch die Institutionen ganz im Westen werden bis dato offenbar nicht überrollt. Ein signifikanter Anstieg sei bei den Anträgen im Vergleich zu den Vorjahren nicht ablesbar, heißt es im Ressort des VP-Politikers Bernhard Tilg, für die Pflege zuständiger Landesrat in Tirol. Auch die Warteliste habe sich derzeit noch nicht verlängert.

In Vorarlberg ist selbige derzeit sogar kürzer als sonst üblich: Warten üblicherweise zwischen 50 und 60 Personen auf der Anmeldeliste auf die 2.382 Plätze in einem der 51 Heime, so seien es laut Auskunft aus dem Landhaus in Bregenz aktuell nur 38. Von einem "Run", sagt Fachbereichsleiter Martin Herburger, könne nicht gesprochen werden. Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) selbst spricht von "einem gewissen Druck auf die Pflegebetten".

Anders fällt die Erfahrung ganz im Osten aus. Von einem "stärkeren Zulauf" in die derzeit von 2.000 Menschen bewohnten 44 Heime des Burgenlandes spricht man im Büro von Norbert Darabos (SPÖ), Landesrat im Burgenland. Heimbetreiber berichteten auch über angewachsene Wartelisten. Konkrete Steigerungszahlen wollen die Burgenländer aber nicht nennen, zumal mit vielen Doppelanmeldungen zu rechnen sei.

Nachfrageplus im Osten

In Niederösterreich, wo es rund 11.000 stationäre Pflegeplätze gibt, weist man im Ressort von Landesrätin Christiane Teschl-Hofmeister (von der ÖVP nominiert) gar ein Plus von 60 Prozent bei der Nachfrage aus. Allerdings erfüllten nicht alle der 890 Neuanträge von Jahresbeginn bis Ende Februar das Kriterium für die Heimaufnahme, weshalb die Entwicklung der Warteliste die relevantere Messlatte sei, wie ein Sprecher des Ressorts sagt: "Diese befindet sich immer noch im Rahmen des Machbaren."

Am eindeutigsten belegt das mit einer Gesamtkapazität von rund 20.400 Plätzen ausgestattete Wien einen "Run" auf die Heime. Hatten sich in den ersten beiden Monaten des Vorjahres 1.217 Menschen neu angemeldet, so waren es im Vergleichszeitraum 2018 laut Zahlen des in der rot-grün regierten Stadt für die Pflege zuständigen Fonds Soziales Wien bereits 1.562 – ein Plus von 28 Prozent.

Warum die Länder Geld fordern

Daten aus Salzburg weisen sogar eine Versiebenfachung gegenüber dem Vorjahr aus. Allerdings handelt es sich bei der genannten Zahl um Erstanträge auf Sozialhilfe, die Pflegebedürftige im Jänner 2018 insgesamt gestellt haben – woraus kein Boom an Neo-Interessenten ableitbar ist. Die Sozialabteilung des schwarz-grün regierten, mit 5.188 Heimplätzen ausgestatteten Landes geht schließlich davon aus, dass das Plus fast ausnahmslos auf ehemalige "Selbstzahler" zurückzuführen ist: Menschen, die schon bisher im Pflegedomizil lebten, die Kosten aber vorsorglich selber berappten, damit etwa das Eigenheim nicht Gefahr ist. Nach Ende des Regresses lässt sich diese Gruppe die Heimrechnung logischerweise nun von der öffentlichen Hand begleichen.

Die Selbstzahler fallen überall ins Gewicht. Soweit im STANDARD-Rundruf eruierbar, betrug ihr Anteil je nach Land zwischen acht (Kärnten) und 30 Prozent (Salzburg) der Heimbewohner. Wien allein rechnet fürs laufende Jahr mit Zusatzausgaben von 53,68 Millionen Euro, weil die Stadt in diesen Fällen nun mit Steuergeld einspringen muss – das ist mehr als die Hälfte jener 111,3 Millionen, die Wien insgesamt als Folgekosten aus der Abschaffung des Pflegeregresses veranschlagt.

Streit um die Millionen

Zum Vergleich: Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) bietet als Kompensation 100 Millionen Euro – allen Ländern zusammen. Diese fordern gemeinsam ein Vielfaches, von 500 bis 650 Millionen ist die Rede. Konkrete Erfahrungswerte hin oder her: Die regionalen Regenten hatten in ihren Forderungen an die Bundesregierung vorsorglich argumentiert, dass sie jedenfalls viele neue, teure Heimplätze errichten werden müssten. Die Finanz- und Sozialreferenten der Länder werden am Donnerstag und Freitag dieser Woche beraten und ihre Linie abstecken. Noch im April will Löger eine hieb- und stichfeste Kostenrechnung sehen.

Der Umstand, dass sich der "Run" auf die Heime vielerorts bisher aber eben nicht nachweisen lässt, könnte den Finanzminister freilich in einem Verdacht bestärken: dass die Länder kräftig übertreiben, um möglichst viel Geld herauszuschlagen. (red, 9.4.2018)