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Othmar Karas beim Wahlkampfauftakt in den Sophiensälen: Inhaltliche Übereinstimmung mit den Forderungen von Kanzler Kurz und EVP-Spitzenkandidat Weber.

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Karas als Zuhörer: Gespräch mit seinem alten Freund Michael Landau, dem Präsidenten der Caritas

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Othmar Karas hat keinen leichten Stand beim Wahlkampfauftakt der ÖVP: Kaum ein Redner lässt den Hinweis darauf aus, dass es in der EU nun neue, jüngere Vertreter geben muss – für einen 61-jährigen Politiker, der schon seit 20 Jahren Mitglied des Europäischen Parlaments ist, muss sich das wie eine Ohrfeige anfühlen. Ist er nicht Spitzenkandidat der Volkspartei?

Ja, ist er. Aber er wirkt verunsichert, als er ans Rednerpult tritt. Er verhaspelt sich ein Dutzend Mal, als er vor den gut 1000 Unterstützern, die sich Samstagvormittag in den Wiener Sophiensälen versammelt haben, sein Europabild entwirft: "Das Europaparlament ist unser Parlament. Wir wählen es wie unseren Gemeinderat. Wir wollen ein starkes Europa in der Welt", sagt Karas, der vielen hier als einer der letzten Schwarzen in einer auf Türkis umgefärbten Partei gilt. "Ich bin Christdemokrat." Das ist seine Überzeugung, er sagt es bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und er bekommt dafür beachtlichen Applaus.

Magie des Zusammenhalts

Applaus setzt es auch dafür, dass er Edith Mock als Unterstützerin anführt: Die Witwe des langjährigen Parteiobmanns, Außenministers und Karas-Förderers Alois Mock wirkt, ohne selbst ein politisches Amt zu bekleiden, als Integrationsfigur in der Partei. Fast liegt etwas Magisches darin, wenn auf den Großbildschirmen im Saal gezeigt wird, wie die alte Dame nach dem an einer Kette um ihren Hals getragenen Ehering ihres verstorbenen Mannes greift, wenn dessen Name fällt. So geht Zusammenhalt. Und Zusammenhalt scheint die Partei zu brauchen – gerade weil immer öfter öffentlich daran gezweifelt wird, dass sie die Koalition mit der FPÖ heil überstehen wird.

In den Sophiensälen setzt Karas rhetorisch auf Volksnähe, auch das Video, das vor seiner Rede gezeigt wird, setzt ihn auf dem Fußballplatz in Ybbs und beim Bärenwirt in Petzenkirchen ganz anders in Szene, als man das von einem Vertreter des EU-Establishments erwarten würde.

Natürlich sind nicht alle Zweifel ausgeräumt. Karas weiß das und spricht es offensiv an: "Viele sind mir gegenüber kritisch eingestellt, auch in diesem Raum." Aber es seien nur wenige Akzente in der Europapolitik, die er anders als Kanzler und Parteichef Sebastian Kurz sieht – das sei Teil der Meinungsvielfalt in der ÖVP.

Näher führt er die Meinungsunterschiede nicht aus, im Gegenteil: Karas unterstreicht die von Kurz in der Vorwoche erhobene Forderung, das Einstimmigkeitsprinzip in der EU aufzugeben und einen neuen EU-Vertrag auszuarbeiten.

Überhaupt: Das Motto "Machen wir's besser. Machen wir Europa." mag er nicht als gegen die bisherige, auf Vertiefung der Union gerichtete Politik der Europäischen Volkspartei (EVP) interpretiert sehen. Niemand will das, auch der Kanzler nicht, der in seiner Schlussrede dann Karas als einen der erfahrensten Europapolitiker auf dem Kontinent preist – in der ÖVP ist Einigkeit angesagt. Es ist angesichts des von den Konservativen propagierten Vorzugsstimmenmodells ein Vorzugsstimmenwahlkampf jeder gegen jeden. Aber auch wenn die dem türkisen Lager zugeordnete Listenzweite Karoline Edtstadler immer wieder ins Bild gerückt wird – auf den Tischaufstellern im Saal wird um Vorzugsstimmen für den offiziellen Frontmann geworben.

Schließlich gilt Karas auch in Umfragen als der kompetenteste Europapolitiker – und als solcher wird er auch bei seinen weniger öffentlichkeitswirksamen Wahlkampfauftritten wahrgenommen. Seit Wochen tingelt er durchs Land, um sich Diskussionen zu stellen, besonders gern mit Sozialinitiativen – denn seine Verankerung in Österreich besteht unter anderem in seiner Präsidentschaft im Hilfswerk. Das beschert ihm Zulauf, wenn er etwa zu einem "Frühstück mit engagierten Personen aus der Zivilgesellschaft" lädt und dort mit den Sorgen um die europaweite Anerkennung des Behindertenausweises oder mit dem Wunsch nach leichterer Niederlassung für medizinisches Personal konfrontiert wird.

Die ÖVP-Tugend liegt im Zuhören

Karas hört aufmerksam zu, er sagt nie mehr zu, als er halten kann. Aber genau das festigt die Einschätzung, die sein langjähriger Freund, Caritas-Präsident Michael Landau, hat: Karas könne viele Türen in Europa öffnen, weil er eben ein Profil als grundehrlicher Politiker habe. Als Landau Karas eine Einrichtung der Caritas zeigt, spricht er die Sorgen seiner Klienten hinsichtlich der neuen Sozialhilfe und des vor allem in den niedrigsten Pflegestufen zu niedrigen, weil nicht valorisierten Pflegegeldes an.

Wieder hört Karas zu, auch wenn das keine Themen der Europapolitik sind – aber man kann davon ausgehen, dass er sie bei geeigneter Gelegenheit ansprechen wird.

Die vielen kleinen Auftritte, die Karas in den vergangenen Wochen zu Eltern- und Obdachloseninitiativen, in kleine Museen und große Sozialorganisationen geführt haben, machen auch beim EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber Eindruck: "Was ihr als ÖVP vorlebt, ist das Zuhören", sagt der Bayer, der Kommissionspräsident werden will. Und er lobt beim großen Wahlkampfauftritt in den Sophiensälen den Bundeskanzler: "Ihr habt in Österreich den Aufbruch schon geschafft. In Europa steht uns dieser Aufbruch noch bevor."

Kurz bedankt sich bei Weber, unterstützt dessen Vorschlag, 1000 EU-Regeln einfach zu streichen, und ergänzt ihn um die Idee, für jede neue EU-Behörde eine bestehende EU-Behörde aufzulassen. Und es soll in Zukunft nicht nur das Einstimmigkeitsprinzip in der EU fallen, es soll auch nicht mehr jedes Land den Anspruch haben, einen Kommissar zu stellen. Das sorgt für Widerspruch des Koalitionspartners, aber dieser ist Kurz willkommen. Schließlich hilft das dabei, das Profil der ÖVP im Wahlkampf zu schärfen. (Conrad Seidl, 5.5.2019)