Architektin Sabine Pollak plädiert im Gastblog für mehr Gehen in der Stadt.

Die serbische Künstlerin Marina Abramović und ihr Partner Ulay brauchten fünf Jahre Vorbereitung, um ihr Projekt „The Lovers: The Great Wall Walk“ realisieren zu können. Ziel war, die Chinesische Mauer in einer Länge von 2.500 Kilometern zu begehen, sie von Osten nach Westen, er umgekehrt. Das Projekt war politisch brisant, erforderte zahlreiche Genehmigungen und bedurfte langer körperlicher Vorbereitungen, um die Strapazen zu überstehen. 1988 machte sich das Paar auf den Weg. Wenn sie sich treffen würden, würden sie heiraten, so der Plan. Doch als sie sich aufeinander trafen, trennten sich ihre Wege.

Temporäre Markierungen verweisen im Gehen auf Geschlechter-Stereotypen.
Friedrich Aichhorn, Paul Paptistella/Kunstuni Linz

Gehen statt planen

Gehen als künstlerische Praxis ist oft ein politischer Akt, vor allem ist es jedoch immer ein körperlicher Akt, der oft mit extremen Herausforderungen verbunden ist. Künstlerinnen und Künstler, die das Gehen als Teil ihrer Praxis begreifen, stellen ihren Körper in der Regel stärker in den Mittelpunkt ihrer Arbeit als andere. Man setzt den Körper ein, um etwas deutlich zu machen und in Bewegung zu setzen. Im Gehen werden territoriale und körperliche Grenzen zugleich beschrieben. Körper, Landschaft und Territorium werden für eine begrenzte Zeit deckungsgleich. Im ersten Blick scheinen Gehen und Stadtplanung zwei gegensätzliche Praktiken zu sein. Nach einer ersten oder zweiten Begehung eines Areals sitzt man als Planende vor allem am Tisch und vor dem Computer. Der Plan ist drinnen, die Stadt draußen.

Alltag ist Kunst und die Stadt gehört uns allen

Dabei wäre es so hilfreich, würden wir öfters hinausgehen. Nicht um etwas zu besorgen und nicht, um uns zu ertüchtigen, sondern einfach nur, um die Stadt mit dem Körper zu begreifen. Meine These ist: Würden Verantwortliche der Stadtplanung mehr und anders durch die Stadt gehen, würde diese auch anders aussehen. In Wien hat man das Gefühl, Entscheidungsträger und -trägerinnen fahren vor allem mit dem Auto. Anders ist die Raumverteilung und die Flächenversiegelung nicht erklärbar. Dieser Blogbeitrag ist also ein Plädoyer für mehr Gehen in der Stadt, bewusstes oder unbewusstes Gehen, schnelles oder langsames Gehen, thematisch fokussiertes Gehen, einfach Gehen. Gehen als künstlerische oder urbanistische Praxis bedeutet, sich der allgemeinen Beschleunigung der Städte und des Lebens zu widersetzen. Eine alltägliche Praxis wird Teil einer künstlerischen Strategie oder, ganz einfach, der Alltag des Gehens wird zur Kunst erklärt, das heißt, der Alltag ist Kunst und die Kunst ist Leben, und die Stadt sind sowieso wir alle.

Gehen als künstlerische Praxis. Performance: L. Illig, raum&designstrategien, Kunstuni Linz.
Foto: Lieselotte Illig
Kurzzeitige Absperrung, Raum zum Gehen. Performance: L. Illig, raum&designstrategien, Kunstuni Linz.
Foto: Lieselotte Illig

Flanieren als widerstände Praxis

Die französische Philosophin Simone de Beauvoir schrieb einmal über ihre periodischen Spaziergänge mit Sartre, dass jeder Ausflug ein Kunstwerk gewesen sei. In ähnlicher Weise sahen die Surrealisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in jedem Straßenschild, dem sie auf ihren Spaziergängen begegneten, ein Zeichen für eine surreale Welt (zum Beispiel der Schriftsteller André Breton im Roman "Nadia" anlässlich eines Werbeschildes der Firma Citroën). So alltäglich und natürlich das Gehen auch sein mag, es kann auch mit subversiven Taktiken verbunden sein. In Walter Benjamins "Passagen-Werk" beschriebene Figur des Flaneurs war wohl eher bürgerlich als subversiv. Dennoch begegnete der Flaneur (er war nur männlich) Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts der zunehmenden Schnelligkeit der Stadt mit einer widerständigen Langsamkeit. Um 1840 war es beispielsweise, wie Benjamin schreibt, in den Passagen en vogue, mit einer Schildkröte spazieren zu gehen. Der Flaneur wollte immer langsamer werden, die Stadt wurde letztlich immer schneller und wird es heute noch.

Gehen wird wissenschaftlich

Spazierengehen als künstlerisch-urbanistische Praxis bedeutet mehr als nur einem Bewegungsdrang zu folgen. Gehen bedeutet auch Denken. Die antiken griechischen Philosophen (es waren ausschließlich Männer) vertraten die Meinung, dass man nur im Gehen denken könne, wofür die weitläufige Agora mit ihrer halboffenen Architektur gut geeignet sei. Darauf gründete sich die peripatetische Schule. Nach dem Denken im Stehen am Rednerpult oder im Liegen auf einem Symposion, wie es Platon propagiert hatte, war Aristoteles der Meinung, dass das Gehen und Umherwandern die Gedanken anregen würde.

Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt widmete sein ganzes Leben dem Gehen. Um dies wissenschaftlich zu untermauern, erfand er die sogenannte Promenadologie oder Wissenschaft des Gehens. Sie beruht auf der Annahme, dass unsere Vorstellungen von Landschaft nicht durch ein einziges Bild, sondern durch eine Vielzahl verschiedener Bilder aus den unterschiedlichsten Perspektiven geprägt werden. Nur beim Gehen, Spazieren und Wandern könne man diese Bilder erleben, so Burckhardt. Seine Spaziergänge mit Studierenden in Kassel führten zu unbekannten und bisher unbeachteten Orten in der Stadt. Oder, wie die Reise nach Tahiti im Zuge der Documenta im Jahr 1973, ein Spaziergang zum ehemaligen Truppenübungsplatz Dönche. „Was entdecken Entdecker?“, lautete die Frage des Projekts. Entlang einer Wanderung wurden Texte von James Cook und George Forster gelesen, die 1773 Tahiti erobert hatten. Man liest die Texte von Forster und Cook beim Blick auf den lapidaren Ex-Truppenübungsplatz Dönche. Ein Spaziergang also mit historischem Mehrwert, man wird selbst zur Eroberin (einer postindustriellen Landschaft) und erhält einen neuen Blick auf alles.

Gehen ist wie Zeichnen

Beim Wandern geht es um Orte, die man erreichen will. Oder es gibt keinen Ort als Ziel und es geht nur um das Gehen selbst, um das Umherstreifen, Flanieren, Pilgern oder das sportliche Walken und Laufen. Gehen verbessert die Laune, das wurde insbesondere während der Pandemie klar. Im Gehen werden Endorphine ausgeschüttet, Probleme relativieren sich und neue Perspektiven eröffnen sich. Sofern es sich nicht um ein funktionales Gehen handelt, bei dem eine Strecke möglichst schnell zurückgelegt werden soll, wird im langsamen Gehen all das wahrgenommen, was sonst nur stören würde. Im urbanen Gehen werden jene Ecken der Stadt erforscht, in die man vielleicht sonst nie gehen würde. Zugleich werden beim Gehen in der Stadt aber auch jene Fehler der Stadtplanung deutlich, die in einer anderen Bewegungsart nicht auffallen würde. Wer etwa in Linz zu Fuß über die zentrale Nibelungenbrücke geht, wird schier erschlagen vom Straßenlärm. Die Strecke über die Donau scheint unendlich lange. Jede kleinste Steigung der leicht bombierte Brücke wird verstärkt wahrgenommen. Für mich ist Spazierengehen wie Zeichnen. Beide Praktiken verstärken die visuelle Aufnahmefähigkeit.

Details und Oberflächen, willkommene Ablenkung im Gehen.
Foto: Lieselotte Illig

Gehrhythmen

Was bedeutet es, das Wandern und Spazierengehen, das ja eher in der freien Landschaft praktiziert wird, in die Großstadt zu verlegen? Was ist die richtige Art, sich in welcher Stadt zu bewegen? Soll man sich dem Rhythmus der Stadt anpassen? Als ich einmal in New York war, versuchte ich, genauso schnell zu gehen wie die Einheimischen. Das funktioniert nicht, man kommt nicht in den Rhythmus einer fremden Stadt, nicht so leicht zumindest. Und immer ist man erkennbar als Fremde, warum auch nicht, man ist ja fremd. Soll man prinzipiell langsam oder schnell gehen? Was bedeutet es zu schlendern? Wie hängen die Gehbewegungen mit Klasse und Status zusammen?

Um 1960 wurden alltägliche Praktiken wie die des Gehens wiederentdeckt. Insgesamt fanden alltägliche Praktiken den Einzug in die Kunst, und so wurde auch das Gehen zu einem künstlerischen Experiment. Die Künstlerinnen, Künstler, Architektinnen und Architekten der SI (Situationistische Internationale) wandten sich gegen die Monotonie und gegen den Kapitalismus der Nachkriegsstädte. Ihr Begründer Guy Debord wollte dem etwas entgegensetzen, und zwar die situationistische Praktik des ziellosen Umherschweifens, das sogenannte dérive. Dérive war eine spielerische Methode für eine alternative Nutzung der Stadt. Man verließ Haus und Bezirk und begab sich auf eine Reise in der eigenen Stadt, ein politischer Akt und ein Spiel zugleich. Das ausgezeichnete gleichnamige Magazin veranstaltet ein Reenactment des dérives etwa immer wieder im Zuge des Festivals Urbanize in Wien. Da lernt man anhand von kollektiven Spaziergängen, dass es auch ganz gut sein kann, sich einmal in seiner Stadt zu verlaufen.

Critical Run und Notfallthemen

Gehen eignet sich insbesondere, um virulente Themen anzusprechen. Der in Kopenhagen lebende Künstler Thierry Geoffrey (auch Colonel genannt), organisiert dafür seine sogenannten Critical Runs. Colonel organisiert einen Lauf, bei dem Menschen mit ihm und anderen über wichtige politische Themen diskutieren können, sogenannte "Notfallthemen" wie Klimawandel, Krieg, Heuchelei oder Apathie. Critical Runs wurden in vielen verschiedenen Ländern organisiert, etwa im Rahmen von Biennalen. Die Teilnehmenden kommen aus den Bereichen Kunst und Kunstkritik, Politik, von Universitäten oder aus verschiedenen Aktivistenkreisen. "Debattieren und laufen Sie gemeinsam, jetzt, bevor es zu spät ist", so lautet das Motto. Im Jahr 2011 stellten sich die Teilnehmenden in Venedig immer wieder die Frage: Braucht Italien eine Revolution?

Gehen wie Jane Jacobs

Gehen oder Laufen kann auch eine gezielte Form des Protests sein, zum Beispiel gegen falsche Stadtentwicklung und Stadtpolitik, wie die sogenannten Jane's Walks. Jane's Walks sind Stadtteilspaziergänge, die weltweit am ersten Maiwochenende organisiert werden, dem Geburtstag von Jane Jacobs, kanadische Autorin und Kritikerin des fehlgeleiteten modernen Städtebaus. Jacobs lebte in den 1960er-Jahren in Greenwich Village in New York und kämpfte dort erfolgreich gegen die Bebauung von Grundstücken, die viel zu dicht waren und die bestehende Bevölkerung verdrängten.

Ihr Kampf gegen den Stadtpolitiker Robert Moses, der dreistöckige Gebäude durch Wolkenkratzer ersetzen wollte (und dies auch mehrfach tat), wurde legendär. Ihr Buch "The Death and Life of Great American Cities" (1961) gilt bis heute als Standardwerk für die Kritik an fehlgeleiteter Stadtplanung. Jane's Walks sind thematisch um Nachbarschafts- und Stadtthemen herum organisiert und richten sich an alle, die sich für das Leben in einer Nachbarschaft interessieren. Im Jahr 2019 wurden in Wien 18 Walks organisiert, an denen 450 Menschen teilnahmen. Darunter waren zum Beispiel ein Spaziergang zur Liesing-Wasserleitung, ein Spaziergang zur Geschichte und Gegenwart der Überwachung oder ein Spaziergang, der sich mit der Obdachlosigkeit junger Frauen beschäftigte.

Gehen mit (m)einem nackten Körper.
Foto: Laura Rumpl, Lea Hartmann, Marion Winter

Performance “heutetrageichnackt” von Laura Rumpl, Lea Hartmann und Marion Winter, raum&designstrategien, Kunstuniversität Linz.

Notfallthemen in Wien

Wien könnte mehr vertragen an solchen Initiativen. Ich würde monatlich stattfindende Spaziergänge oder Laufveranstaltungen vorschlagen, bei dem alle Personen, die in die Stadtplanung involviert sind, sich durch verschiedene Bezirke bewegen. Man könnte wichtige Themen (Notfallthemen) diskutieren, wie das Sterben des Naschmarkts, die Gentrifizierung ganzer Stadtteile, die wahnwitzigen Wohnungspreise, die Dominanz von Autos an jedem Eck der Stadt oder den Verlust alter Häuser und damit den Verlust eines Stücks Identität der Stadt. Im Gehen oder Laufen sind alle gleich. Bleiben wir also im Schwung, planen wir weniger und gehen wir mehr. Bringen wir unsere Universitäten hinaus, belegen wir Straßen mit Seminaren, wandern wir zukünftige Straßentrassen entlang und legen wir Teppiche am Asphalt aus, damit der Aufprall nicht so hart wird, wenn wir einmal stolpern. Setzen wir unsere Körper und unsere Gedanken in Gang in unseren Städten, es macht so viel mehr Spaß als am Schreibtisch zu sitzen. (Sabine Pollak, 22.3.2022)

Hinweis: Das Studium raum&designstrategien an der Kunstuniversität Linz befasst sich neben anderen Strategien insbesondere auch mit der künstlerischen Praxis des Gehens im urbanen Raum. Infos: strategies.ufg.at

Literaturhinweise

  • Kunstforum international 266, Die Kunst des Gehens, 2020.
  • Ralph Fischer: Walking Artists. Transcript 2011.
  • Rebecca Solnit: Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens. Matthes & Seitz, 2019.

Weitere Beiträge der Bloggerin