Es wird gehämmert, gebohrt und gekehrt. Teile von abgebauten Gerüsten stehen im Stiegenhaus, Reste von Abdeckungsplanen hängen von Wänden und Geländern. "Am liebsten gehe ich über die neue Stiege hinauf in den dritten Stock. Dorthin, wo das Licht durch die Fenster fällt und den ganzen Raum erhellt", sagt Emma Ursich.

Die Procuratie Vecchie, die Alten Prokuratien, waren einst der Sitz der venezianischen Baubehörde.
Foto: Martino Lombezzi

Sie ist die Leiterin der Abteilung Corporate Identity beim Versicherungskonzern Generali und führt durch die Procuratie Vecchie. Was zunächst fremd klingt, wird jeder kennen, der schon einmal in Venedig war: Das dreistöckige Gebäude zieht sich vom Dom aus gesehen über die gesamte rechte Seite des Markusplatzes und war bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts der Sitz der Prokuratien – also der venezianischen Baubehörde.

Generali hatte hier schon im Jahr 1832 die ersten Büroräume gekauft; über die Jahre ist der Versicherungskonzern Haupteigentümer geworden. Jahrzehntelang stand das Objekt so gut wie leer, weil es modernen Ansprüchen für Strom, Heizung und Internet nicht mehr genügte. In den vergangenen drei Jahren wurden die Procuratie Vecchie nun aber auf den neuesten technischen Stand gebracht und umfassend renoviert. Zu den Kosten will sich die Generali allerdings nicht äußern.

Ideenwettbewerb

Den Auftrag für die Renovierung vergab die Versicherungsgruppe nach einem Ideenwettbewerb an den Stararchitekten David Chipperfield. "Sein Büro hat die Geschichte und die Struktur des Gebäudes in der Tiefe recherchiert und verstanden", begründet Ursich die Entscheidung.

Chipperfield, mit Büros in Mailand, Berlin, London und Schanghai, ist auch in Wien sehr bekannt. Der Stararchitekt hat das Weltstadthaus an der Kärntnerstraße geplant, und im Wiener Nobelbezirk Hietzing entsteht gerade eine Luxuswohnsiedlung, deren Planung aus Chipperfields Feder stammt.

Im ersten und zweiten Stock wurde nur behutsam modernisiert.
Foto: Martino Lombezzi

Während der Architekt seine eigenen Ideen bei der Renovierung in Venedig im ersten und zweiten Stock sehr zurückgenommen und die Arbeit der ursprünglichen Architekten Bartolomeo Bon und Jacopo Sansovino erhalten hat, hatte er im dritten Stock mehr Gestaltungsspielraum. Die Räume dienten bisher lediglich als Dachboden. Chipperfield lässt mit Dachfenstern und Glasfronten die ehemaligen Lagerräume mit Licht überfluten. Über die gesamten 150 Meter des Stockwerkes gibt es keine einzige Tür; hellbeige Bögen verbinden ein Zimmer mit dem anderen.

Neue alte Handwerkstechnik

Für diese Bögen hat der Baumeister eine alte venezianische Handwerkstechnik verwendet, die in der Hafenstadt eigentlich für die Bodenverlegung angewandt wird. Für den Terrazzo Veneziano werden Marmorgranulat und andere Steine mit Wasser, Pigmenten und Bindemitteln wie Kalk und Zement vermischt. Chipperfield ließ nur cremefarbene Steine verwenden, an der Herstellung der perfekten Mischung haben die Handwerker und der Architekt ein Jahr lang gearbeitet. Die Beigetöne sollen eine Harmonie mit dem dunklen Deckenholz herstellen, das im Original belassen wurde.

Einziehen wird hier künftig Human Safety Net, eine Initiative der Generali, die sich die Förderung und Unterstützung benachteiligter Menschen zum Ziel gesetzt hat. Die Organisation eröffnet im dritten Stock ein Museum, in dem die Arbeit von Human Safety Net vorgestellt wird. Auch ein Café, Arbeitsplätze und einen Veranstaltungsraum gibt es. "Es soll ein Ort werden, an dem sich Menschen treffen können, um sich auszutauschen, auch und unbedingt die Venezianer selbst", sagt Ursich, die Vorsitzende von Human Safety Net ist. Eine Zusammenarbeit mit venezianischen NGOs sei bereits angelaufen.

Im dritten Stock, der bisher nur Dachboden war, ziehen nun ein Museum und Coworking-Spaces ein.
Foto: Camilla Glorioso

"Mit der Anpassung des Gebäudes an ein öffentliches Programm für Human Safety Net wägen wir neue infrastrukturelle Anforderungen mit der Restaurierung und Renovierung der historischen Bausubstanz sorgfältig ab", sagt Chipperfield selbst zu dem Projekt. Es sei von dem doppelten Ziel geleitet worden, das Gebäude als architektonisches Werk wieder zu vereinen und seine Rolle als Ort der Arbeit, der Begegnung und der Diskussion in der Stadt wiederherzustellen.

An der richtigen Mischung für die Wände im dritten Stock wurde ein Jahr lang gearbeitet.
Foto: Camilla Glorioso

Die "Wiedervereinigung" des Gebäudes war nötig geworden, weil es sich über die Jahrhunderte in einen "Hasenbau" verwandelt habe, wie Ursich erklärt. Da das Objekt den Prokuratoren, also den Beamten der venezianischen Baubehörde, auch als Wohnraum diente, hat sich im Inneren eine vertikale Struktur entwickelt, die mit verschiedenen Treppen und Gängen verbunden wurde. Chipperfield habe mit den neuen Stiegenhäusern Struktur und Logik geschaffen.

800-jährige Baugeschichte

Den Respekt vor der Geschichte des Hauses sieht man auch an dem, was Chipperfield nicht verändert hat. Die Mauern der Zimmer im dritten Stock sind nicht übermalt worden, sondern lediglich mit einer sogenannten Scialbatura, einer dünnen Kalkschicht, verputzt. Dadurch sind die verschiedenfarbigen Ziegelsteine, Holzbalken und ehemaligen Türrahmen und somit die über 800 Jahre alte Geschichte des Gebäudes weiterhin erkennbar.

Am 8. April sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Das Gebäude wird dann erstmals seit 500 Jahren wieder für die Öffentlichkeit zugänglich sein. (Lisa Kogelnik, 13.3.2022)