Wie Identitätsfindung, auch in Bezug auf Religion, in Zeiten von Social Media funktioniert, hat sich Religionswissenschafterin Kathrin Trattner anhand des Films "Sonne" im Gastblog angeschaut.

Eine fiktive Geschichte über ihre reale Gefühlswelt – so bezeichnet die österreichische Regisseurin Kurdwin Ayub ihr Spielfilmdebüt "Sonne", mit dem vergangene Woche die Diagonale in Graz eröffnet wurde. "Sonne" ist ein vielschichtiges, authentisches und vor allem humorvolles Porträt einer Generation, deren Identitäten und Zugehörigkeiten so schnelllebig sind wie Instagram-Storys. Dabei konfrontiert die Regisseurin auf ironische Art und Weise das Publikum mit den eigenen Stereotypen, die sie fortlaufend dekonstruiert.

Stadtkino Filmverleih

Twerken im Hijab

Im Zentrum von Sonne stehen die 17-jährige Yesmin (Melina Benli) und ihre Freundinnen Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka). Zu Beginn des Films drehen die drei Freundinnen aus Spaß und Langeweile in Hijabs gehüllt am Handy ein Musikvideo zu R.E.M.s „Losing My Religion“. Sie tanzen, wälzen sich am elterlichen Ehebett, singen und lachen. Das Video wird viral und die drei Freundinnen werden quasi über Nacht zu Stars der muslimisch-kurdischen Szene Wiens.

Während Yesmins Mutter erbost ist und das Video als beleidigend gegenüber ihrer Religion empfindet, ist ihr Vater unheimlich stolz auf sie und kutschiert die drei Freundinnen zu Auftritten auf kurdischen Hochzeiten und im muslimischen Frauenkulturzentrum. Doch die anfängliche Euphorie ist nur von kurzer Dauer: Zunehmend distanzieren sich die Freundinnen voneinander. Während Bella und Nati sich immer mehr in der kurdischen Kultur zuhause fühlen, beginnt Yesmin, die einzige Kurdin unter den dreien, ihre Identität zunehmend zu hinterfragen.

„Sonne“ übersetzt gekonnt die Ästhetiken, Geschwindigkeiten und Logiken von Social Media ins Kino. Im hochkantigen Format werden dabei auf der Leinwand Instagram-Videos der Protagonistinnen gezeigt, bei denen es sich, wie Ayub im Publikumsgespräch erklärt, teilweise um private Videos der Darstellerinnen handelt. Ohne diese Ebene könne man heute keinen Jugendfilm erzählen. Das Tempo und die Schnelllebigkeit von Social Media spiegeln nicht zuletzt die Instabilität und Fluidität jugendlicher Identitäten wider, die sich zwischen unterschiedlichsten Zugehörigkeitsangeboten immer wieder neu orientieren.

Bella und Nati posieren im Hijab.
Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion

Religion, Identität und Social Media

Die Verflechtung von Religion, jugendlicher Identitätssuche und Social Media war auch Gegenstand einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Diagonale, an der neben Kurdwin Ayub die Pastoraltheologin Regina Polak, der Politikwissenschaftler Christoph Novak und Cristina Zerr, die Regisseurin des ebenfalls auf der Diagonale gezeigten Dokumentarfilms „Der stille Sturm“, teilnahmen. Dabei wurde unter anderem darüber diskutiert, was denn nun die Rolle von Religion für die Identitätsfindung der jungen Mädchen in „Sonne“ sei. In erster Linie handle es sich dabei um ein Zugehörigkeitsangebot, ein Label, mit dem man sich identifizieren könne, das man aber ebenso schnell auch wieder abzulegen vermöge. In Bezug auf den Zusammenhang zu Social Media erklärt Ayub dabei: „Wie eine Instagram-Story, wenn die gelöscht wird nach 24 Stunden, so schnell können sich [die Jugendlichen] auch eine neue Identität suchen, was irgendwie sehr oberflächlich scheint, aber darunter so eine tiefe Verlorenheit zeigt: Dieser Drang, etwas haben zu wollen.“

KULTUM Graz

Der Film erzählt von dieser von jugendlichen Unsicherheiten geprägten Suche nach Identität und Halt aus deren Perspektive – im filmischen Sinne wortwörtlich – und schafft nicht zuletzt dadurch eine selten im Kino zu sehende Lockerheit und Ironie im Umgang mit gesellschaftspolitisch brisanten Debatten. So erklären die Festivalintendanten Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger in ihrer Eröffnungsrede zur Diagonale: „Sonne unterstreicht, dass man kulturelle Identitäten nicht überbewerten sollte, weil sie sich jederzeit ändern können und die Sehnsüchte dahinter nach einem schönen und glücklichen Leben universell sind.“

Mehr Fragen als Antworten

„Sonne“ lässt viele Fragen offen. Laut der Regisseurin war das beabsichtigt. Es sei ihr insgesamt mehr darum gegangen, Fragen zu stellen als Antworten zu geben, nicht zuletzt, um das Publikum herauszufordern, sich auf der Suche nach Antworten mit den eigenen Erwartungshaltungen und Stereotypen zu konfrontieren. Das Spiel mit der Umkehrung von Klischees und Rollenbildern prägt „Sonne“ durchgehend, beispielsweise in Bezug auf Yesmins Eltern. Hier bürstet Ayub etwa das Bild des patriarchalen muslimischen Vaters gegen den Strich – „was nicht heißt, dass es den patriarchalen Vater nicht gibt“, wie sie im Rahmen der Podiumsdiskussion erklärt. Nur war es ihr eben ein Anliegen, auch mal etwas anderes zu zeigen. Etwa auch, dass es nicht immer zwangsläufig ein riesiges Drama sein muss, wenn ein muslimisches Mädchen ihr Kopftuch ablegt. Irgendwo sei der Hijab ja auch nur ein Stück Stoff, mit dem man genauso singen, lachen, tanzen und lustige Videos machen kann wie ohne ihn. (Kathrin Trattner, 13.4.2022)

"Sonne" kommt am 9. September 2022 in die Kinos.

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