Im Gastblog analysiert Volker Schönwiese die kürzlich beschlossenen Maßnahmen der Politik zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Behindertenpolitik ist politisch in Österreich traditionell weit hinten gereiht, um nicht zu sagen "das Letzte". In dem zuletzt verabschiedeten Nationalen Aktionsplan Behinderung (NAP) der österreichischen Bundesregierung für 2022-2030 werden weder strukturelle Verbesserungen fixiert noch Schritte eingeleitet, die zu einer Rücknahme der in den letzten Jahren gesetzlich verankerten Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen führen. Auf öffentliche Kritik von Interessensvertretungen behinderter Menschen gibt es kaum Reaktionen. Die österreichischen Medien haben sich in einer Art von generalisierten Licht-Ins-Dunkel-Mentalität gewöhnt, das Thema Behinderung der Weihnachtszeit und Charity Business zuzuschieben.

Die Maßnahmen verbessern Bereiche wie etwa Persönliche Assistenz oder barrierefreies Leben nicht.
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Die kürzlich verstorbene Nationalratsabgeordnete Theresia Haidlmayr, langjährige Behindertensprecherin der Grünen, benannte die realen Hintergründe für den Mangel an aktiver Behindertenpolitik in Österreich bereits im Jahr 2005: "Den Wirtschaftsinteressen wurde zu 100 Prozent nachgegeben." Damals ging es um einen entscheidenden Rechtsbereich für Menschen mit Behinderungen, um das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz, das ohne einen Anspruch auf die Unterlassung und Beseitigung von Barrieren und Diskriminierung beschlossen wurde.

Der NAP 2022-2030 ist eine ähnlich problematische Konstruktion. Die Vielzahl von genannten Maßnahmen sind unter dem Einfluss verschiedenster Interessensvertretungen nicht so formuliert, politisch abgesichert und mit finanzieller Absicherung ausgestattet, dass eine strukturwirksame Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und die Beendigung von institutionellen und strukturellen Diskriminierungen zu erwarten ist. Dazu sollen im Folgenden Beispiele genannt werden.

Deinstitutionalisierung, Persönliche Assistenz und Wohnen

Trotz hohem Reformbedarf ist der systematische Auf- und Ausbau gemeindenaher Unterstützungsdienste und Persönlicher Assistenz in Österreich nicht gewährleistet. Eine Umverteilung von finanziellen und personellen Ressourcen von isolierenden Einrichtungen in Richtung gemeindenaher oder mobiler Dienste und Persönlicher Assistenz ist im NAP nicht verankert. Damit scheitert Deinstitutionalisierung an politischem Willen und Geld. Das betrifft den Bereich der Unterstützung behinderter Menschen genauso wie Altenhilfe und "Pflege".  

Gleichzeitig ist die Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen - bundesweit, einheitlich, bedarfsgerecht, einkommensunabhängig, für Kinder und Erwachsene ohne Altersgrenze mit allen Formen von Behinderungen in allen Lebensbereichen - neuerlich auf die lange Bank geschoben worden. Das Erarbeiten von Rahmenbedingungen und "allenfalls" die Einrichtung eines bundesweiten Pilotprojektes bekommt im NAP einen zeitlichen Spielraum bis 2030. Stagnation ist also vorprogrammiert.

Dazu kommt, dass in nahezu allen Bundesländern Verschlechterungen bei der Barrierefreiheit gesetzlich verankert wurden, nachdem die UN-BRK im Jahre 2008 von Österreich ratifiziert worden ist. Eine Rücknahme dieser Verschlechterungen wird im vorliegenden Entwurf des NAP in keiner Weise angesprochen. Ohne barrierefreie Wohnungen funktioniert allerdings der Abbau von großen und isolierenden Institutionen nicht, funktioniert Leben in der Gemeinde mit Hilfe von Begleitung durch Persönliche Assistenz und Unterstützung durch mobile Dienste nicht. Umfassende Barrierefreiheit – eine Kernforderung der UN-Behindertenrechtskonvention – ist für alle Maßnahmen zur sozial nachhaltigen Unterstützung für Menschen jedes Alters entscheidend. Der Hinweis auf Alter ist deshalb notwendig, da die UN-Behindertenrechtskonvention nicht nur für Einrichtungen der Behindertenhilfe gilt, sondern auch für die Altenhilfe mit ihrer enormen Institutionalisierung.

Im Klartext – jenseits nötiger Differenzierung – heißt das: Die Länder und Organisationen der Sozialwirtschaft sowie Dienstleister der Behindertenhilfe sind gegen eine Verbesserung in den Bereichen Deinstitutionalisierung und persönlicher Assistenz. Gleichzeitig haben Wirtschaftskammer und Bauinnung im Rahmen ihrer Deregulierungs-Forderungen Verschlechterungen in puncto  Barrierefreiheit in den Baugesetzen verlangt und konnten sich damit in allen Bundesländern durchsetzen.

Arbeit und Bildung

Im Jahr 2011 – also nach der Ratifizierung der UN-BRK 2008 - ist gegen viel Kritik der Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderungen im Behinderteneinstellungsgesetz verschlechtert worden. Die Folge war eine zunehmende und überproportional hohe Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen. Das Fehlen der Rücknahme der Verschlechterung beim besonderen Kündigungsschutz ist ein schwerwiegender Fehler im vorliegenden NAP. Es ist auch keine Anhebung der Ausgleichstaxe, die sich an den Kollektivverträgen orientiert, noch ein entsprechender Solidarbeitrag angedacht. Hier haben sich die Interessensvertretungen der Wirtschaft durchgesetzt.

Weiters akzeptiert der NAP Stagnation und Rückschritte bei der inklusiven Bildung. Vage geht es nur mehr um "Entwicklung und Umsetzung bundeslandspezifischer Konzepte zum Ausbau inklusiver Bildung", während weiterhin neue Sonderschulen gebaut werden und somit Möglichkeiten zur Inklusion eingeschränkt bleiben. Dies bedeutet, jenseits nötiger Differenzierungen, dass das Bildungsministerium am status quo klebt, während sich die Länder sowie die – ÖVP-dominierte – Lehrer- und Lehrerinnengewerkschaft durchsetzen konnten.

Aufbegehren von Betroffenen

Es gibt für behinderte Menschen in den – für alle Menschen grundlegenden – Lebensbereichen wie Wohnen, Bildung, Arbeit und Unterstützung gravierende Probleme, die im NAP nicht oder nicht ausreichend behandelt werden. Stagnation und die Akzeptanz von Rückschritten dominieren. Die Unruhe bei Interessensvertretern und Interessensvertreterinnen  von Menschen mit Behinderungen steigt. Es wird neuerdings sogar aus Kreisen des Behindertenrates von der Notwendigkeit "auf die Straße zu gehen" gesprochen. Dabei kommt die Erinnerung auf, wie in den 1990er-Jahren durch Mahnwachen, Demonstrationen und einen Hungerstreik das Pflegegeldgesetz erkämpft wurde.

Die Politik darf den Unmut der durch Alibi-Partizipation (Tokenism) einbezogenen behinderten Menschen nicht unterschätzen. Der österreichische Bundesmonitoringausschuss hat jedenfalls schon angekündigt, einen Sonderbericht über Rückschritte in Österreich an das UN-Komitee zur Überprüfung der Umsetzung der UN-BRK nach Genf zu senden. (Volker Schönwiese, 13.7.2022)

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