Qin Sizhen sitzt in der Auslage, walkt und füllt, faltet und drückt mit Eleganz und Schnelligkeit. Binnen Sekunden ist der Teig jeweils ausgerollt, die Fülle hineingelöffelt, das Tascherl gefaltet und fest verschlossen. Und so sauberes Arbeiten! Man möchte der älteren Dame stundenlang zusehen – wenn es nur nicht so unschicklich wäre. Schauen tut man nicht, also hilft nur kosten.

Na endlich: Im Herzen der Wiener Innenstadt werden jetzt chinesische Teigtaschen fabriziert. Ganz legal, in Handarbeit.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Im Hochhaus Herrengasse ist seit bald zwei Monaten eine Dependance des chinesischen Restaurants Laolao aus der Mariahilfer Straße eingezogen – genau, die aufsehenerregend gestaltete Hütte mit dem endlos langen Kettenvorhang, wo Lamian (ebenso lange, herrlich bissfeste Nudeln, grandiose Suppeneinlage) vor den Gästen von Hand geschlagen und Jiao zi, die vielfältig gefüllten, der Überlieferung nach als "ohrförmig" beschriebenen Teigtaschen, gefaltet werden.

Im Stammhaus gibt es noch eine Vielzahl weiterer Speisen – seit kurzem ist etwa, sehr empfehlenswert, auch ein Meister aus Sichuan Teil des Küchenteams. In der Herrengasse aber geht es ausschließlich um die frisch und vor den Gästen gemachten Jiao zi. So geht Marketing nur, wenn man tatsächlich Können herzuzeigen hat: ab in die Auslage mit der Produktion!

Das kennt man aus Hongkong und anderen Großstädten Ostasiens. Sieht ganz so aus, als ob das Architekturbüro Tzou Lubroth sich von ebendieser Atmosphäre der Unmittelbarkeit von Herstellung und Genuss inspirieren lassen hat: Es dampfen die Nudelkocher, es leuchten die bunten Neon-Schriftzüge in chinesischer und in lateinischer Schrift. Der Kontrast zur sediert bourgeoisen Begegnungszonen-Atmo in der Herrengasse ist hart, das dürfte aber gewollt sein: echt urbanes Essen? Hallo, hier!

Es gibt nicht viele Plätze in der Innenstadt, wo man derart gepflegt handgefertigte Happen vorgesetzt bekommt.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Die Einrichtung selbst ist ohne Kompromiss auf Funktionalität getrimmt – es ist einfach alles aus Edelstahl, von den winzigen Stehtischen bis zum als Raumtrenner funktionierenden Küchenregal. Nur die Sitzwurst an der Wand, an der man lehnen kann, ist aus blitzblauem Leder. Dies ist kein Ort zum Verweilen. Hier holt man sich die schnelle Nudel, und danke,

Jiao zi gibt es in vier Varianten, mit Rind, Hendl, Shitake oder Garnelen. Alle sind empfehlenswert, alle bestechen durch die feste, elastisch bissige Konsistenz des Teigs und saftige, animierend gewürzte Fülle. Sie werden mit würzigem Pesto aus "eingelegten Olivenblättern" (muss ein Übersetzungsfehler sein) sowie einer süßsauer marinierten Knoblauchzehe (Achtung!) serviert. Die Nudel mit Rindfleisch, Rettich, Jungzwiebel und Ingwer sticht speziell köstlich heraus. Das Pesto träufelt man sich über die gefüllten Nudeln, bevor sie in eine – nach Gutdünken selbst zusammengestellte – Mixtur aus schwarzem Reisessig und Chiliöl getunkt werden.

Kein Schwein haben

Sojasauce steht zwar auf dem Tisch, die gießt man aber bestenfalls tropfenweise dazu. Dass es keine Tascherl mit Schwein gibt, verwundert, schließlich sind die Chinesen noch größere Liebhaber des besten rosafarbenen Freundes der Menschheit als wir Österreicher. Laut Betreiberin Qiu Xiaomei würden die Gäste in ihren Restaurants aber kaum je Schweinefleisch bestellen. Europas führende Schweinefleischesser – ja, das sind wir – verweigern ihr Liebstes also ausgerechnet in chinesischen Restaurants, obwohl die vielleicht am allerbesten von allen damit umgehen können? Auch für solche Verwirrungen gibt es mit Sicherheit eine unlogische Erklärung.

Kalte Nudeln gibt es auch, aus Mungobohnen etwa oder aus einer chinesischen Farnwurzel: sehr erfrischend angemacht, aberwitzig schlabbrig, bissl scharf und sehr empfehlenswert exotisch. Es gibt nicht viele Plätze in der Innenstadt, wo man derart gepflegt handgefertigte Happen vorgesetzt bekommt. Und zwar buchstäblich im Handumdrehen. (Severin Corti, RONDO, 22.7.2022)

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