Egal ob Action oder Garten-Simulation – Eskapismus kann in vielerlei Spieltypen ausgelebt werden.

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Konsumiert man regelmäßig aktuelle Schlagzeilen rund um Krieg, Inflation und den teilweise grotesk wirkenden Bundespräsidentenwahlkampf, dann wächst vielfach der Wunsch, dieser oftmals deprimierenden Realität zu entkommen. Fast drei Jahre Corona-Pandemie haben ihr Übriges dazu getan, dass sich zudem Kinder und Jugendliche verstärkt in virtuelle Welten begeben, um innerfamiliären Sorgen oder dem Druck anderer Stressquellen zumindest kurzfristig zu entkommen.

In der Literatur wird diese Realitätsflucht oftmals als Eskapismus bezeichnet und in erster Linie auf dessen Gefahren hingewiesen. Dass diese Form des Ausklinkens sogar sehr positive Aspekte hat und in manchen Zeiten sogar lebensnotwendig sein kann, wird oftmals vergessen. Zu Unrecht.

Bequem und feig

Als die in virtuellen Welten verbrachten Stunden vor allem zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 nach oben schnellten, tauchten schnell die ersten mahnenden Finger auf, die vor allem auf die Videospielsucht als neue Gefahr zeigten. Etwa in Person der Drogenbeauftragten der deutschen Bundesregierung, Daniela Ludwig, die vor einem "heftigen Anstieg" der Nutzungsdauer warnte, der "so nicht weitergehen darf". Videospielsucht darf natürlich nicht heruntergespielt werden, nicht umsonst hat sie die WHO 2018 als psychische Störung anerkannt.

Von Computerspielabhängigkeit spricht man, "wenn eine Person ihr Spielverhalten nicht mehr selbstständig stoppen kann, obwohl es dadurch zu Problemen kommt, beispielsweise wenn jemand nicht mehr zur Schule geht oder bei der Arbeit nicht erscheint", erklärt der Psychologe Benjamin Strobel im Gespräch mit dem STANDARD. Manchmal würden diese Menschen auch gar keine Freude mehr am Spielen empfinden und selbst darunter leiden – dennoch wäre ein Aufhören unmöglich. Hält dieses Muster über einen längeren Zeitraum an, würde man tatsächlich von einer Abhängigkeit sprechen.

In den meisten Fällen, in denen man von Eskapismus spricht, handelt es sich allerdings nicht um solch eine Abhängigkeit, sondern um eine gezielte und zeitlich absehbare Flucht aus einer bestimmten Situation. Die Person wählt sich gezielt ein Medium aus und lässt sich nicht einfach beschallen. Man solle laut Strobel Eskapismus deshalb nicht mit der Vorstellung verbinden, jemand weiche rein aus Bequemlichkeit oder Feigheit einer realen Anforderung aus.

Spiele wie "Among Us" haben viele Jugendliche durch die Anfänge der Pandemie begleitet und tun es heute noch.
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Videospiele im Fokus

Eskapismus kann laut Definition mit den unterschiedlichsten Medien betrieben werden: Bücher, Radio oder auch ein Abtauchen in den Streaming-Marathon mit einer Serie kann dazu zählen. Videospiele sind allerdings besonders gut darin, psychologische Grundbedürfnisse zu befriedigen. Strobel verweist auf die Selbstbestimmungstheorie, die sagt, dass das menschliche Verhalten insbesondere von drei Bedürfnissen geleitet ist. Zum einen gibt es das Bedürfnis nach Kompetenz. Man will sich selbst als wirksam und erfolgreich wahrnehmen. Zum anderen wünschen wir uns Autonomie, also freiwilliges Handeln, und als dritter Punkt besteht der Wunsch nach sozialer Verbundenheit, also dem Aufbau von bedeutsamen Beziehungen zu anderen. All diese Punkte werden von Videospielen im besten Fall erfüllt.

Mit diesem erfolgreichen Abhaken von Bedürfnissen bergen Videospiele natürlich ein gewisses Abhängigkeitspotenzial. Das kann sich laut Strobel dann entfalten, wenn jemand kaum oder gar keine positiven Erlebnisse in anderen Lebensbereichen mehr hat, wie Forscher an der Iowa State University herausgefunden haben. "Wird unser Erleben von Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit überwiegend von Games stimuliert und sind diese Bedürfnisse in anderen Lebensbereichen frustriert, besteht ein erhöhtes Risiko für eine Computerspielabhängigkeit."

Aber gerade das Miteinander beim Spielen kann natürlich auch immens positiven Einfluss haben. Während den ersten Corona-Wellen haben viele das Medium genutzt, um in Kontakt zu bleiben. "Auch wenn vielleicht nicht jedes physische Treffen durch ein virtuelles ersetzt werden kann, können viele Bedürfnisse auch bei Online-Treffen gedeckt werden", ist sich Strobel sicher. Man könne online mit Freundinnen über Probleme sprechen, Dampf über einen blöden Tag ablassen oder um Rat fragen.

Schafe hüten und töten

Haben mit diesem sozialen Aspekt in der Pandemie vor allem Titel wie "Among Us" oder "Animal Crossing" die Verkaufscharts angeführt, wurde etwa Anfang dieses Jahres das fordernde Action-Spiel "Elden Ring" ein Verkaufsschlager, das völlig auf Multiplayer-Inhalte verzichtete. "Es spielt tatsächlich keine Rolle, ob es sich um ein Gute-Laune-Spiel handelt", sagt Strobel. Was einen Menschen gut abtauchen lässt, kann ganz unterschiedlich sein. "Die Persönlichkeitspsychologie beschreibt die Unterschiedlichkeit menschlichen Erlebens und Verhaltens, und es gibt sogar einige Persönlichkeitsmodelle zum Gaming-Verhalten." Das "Gamer Motivation Model" beschreibt beispielsweise unterschiedliche Motive, die zu unterschiedlichen Spielerinnentypen führen.

"Elden Ring" etwa fällt laut Strobel vermutlich in den Bereich Mastery und spricht damit Personen an, die eine Herausforderung suchen und motiviert sind, Hürden durch Übung und Ausdauer zu überwinden. Andere wiederum möchten lieber Geschichten erleben oder Welten erforschen. "Dazu gehöre ich", gibt Strobel zu.

Durch die Pandemie haben Videospiele einen zusätzlichen Boost erhalten. Viele, die vorher nicht gespielt haben, sind jetzt regelmäßig in virtuellen Welten unterwegs. Allein oder gemeinsam.
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Auf die Straße laufen

Eskapismus selbst sei nicht gefährlich, ist sich Strobel sicher. "Außer man rennt mit einer VR-Brille auf der Nase über die Straße." Dem pflichtet auch die Saferinternet-Mitarbeiterin Barbara Buchegger bei, die zu dem Thema bereits in mehreren Diskussionen Stellung bezogen hat und durch ihre Arbeit mit Jugendlichen und deren Eltern regelmäßig eine gute Portion Lebensrealität erfährt. "Eskapismus muss viel mehr als Ressource wahrgenommen werden und muss auch als solche bewertet werden", sagt Buchegger. Dieser Aspekt käme in der regen Diskussion rund um das Thema regelmäßig zu kurz. In der Forschung sei vor allem immer gleich der Konnex zu Medien- oder Spielsucht ein Thema – man sieht Eskapismus oftmals rein als Problem, nicht als Chance.

Könne man in einer Situation nichts ändern, dann sei diese Form der Flucht oftmals sogar sinnvoll, speziell für Kinder und Jugendliche, sagt Buchegger. Den Begriff "Kurzurlaub" findet sie in diesem Zusammenhang zwar passend, allerdings stellt sie Eskapismus in manchen Situationen sogar noch eine Stufe höher. Gerade in sehr belastenden Zeiten seien Medien und eben vor allem Videospiele für Kinder und Jugendliche manchmal der einzige Rückzugsort. "Eltern sind oftmals erleichtert, wenn sie hören, dass dieses kurzzeitige Ausklinken auch etwas Positives sein kann."

Mit dieser Einstellung könne man auch besser mit den Kindern und Jugendlichen auf einer Ebene kommunizieren, da sich diese nicht sofort in der Defensive finden würden. Deshalb sei der Diskurs über dieses Thema so wichtig. Strobel ergänzt: "Eskapismus ist ein völlig normales Verhalten, das nahezu alle Menschen zeigen." Man solle ihn – den Eskapismus – deshalb auch so behandeln. (Alexander Amon, 8.10.2022)