Die ÖVP ist auf Selbstzerstörungskurs – und wenn sie diesen nicht in letzter Sekunde verlässt, reißt sie unser politisches System, wie wir es bisher kennen, mit in den Abgrund. Die Frage ist: Wird es der Partei auffallen, bevor es endgültig zu spät ist?

Spätestens seit dem Geständnis von Thomas Schmid und der eindringlichen Mahnung des Bundespräsidenten müsste den ÖVP-Landeshauptleuten und dem Parteichef klar sein, dass sie einen Schlussstrich unter die Phase Kurz ziehen und reinen Tisch machen müssten.

Die Frage, die sich die Kanzlerpartei stellen müsste, ist nicht ob, sondern wie man sich von Sebastian Kurz und seinen Profiteuren unmissverständlich distanziert. Die Kopf-in-den-Sand-Strategie hat ganz offensichtlich nicht funktioniert, auch das härteste Teflon hätte bei solcher Belastung keine Chance. Es reicht einfach nicht, zu behaupten, die ÖVP habe "kein Korruptionsproblem" und dass die Vorwürfe bloß die Kurz-ÖVP beträfen, die es nicht mehr gebe. Natürlich gibt es sie, ihr Personal ist in Teilen noch da, inklusive ihrer Unkultur.

Genau dort könnte man anfangen. Karl Nehammer sollte eine wirklich unabhängige Kommission einberufen, die kurz und schmerzhaft das Geschehene aufarbeitet, auf einer moralischen und ethischen Ebene, jenseits der juristischen Fragen, die ohnehin von Gerichten geklärt werden.

Die ÖVP sollte einen Schlussstrich unter die Phase Kurz ziehen.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Erster Schritt: Anerkennung. – "Ja, wir haben ein Korruptionsproblem."

Zweiter Schritt: Aufarbeitung, mit personellen Konsequenzen. – Von wem muss man sich trennen, um glaubhaft einen Schlussstrich zu ziehen?

Dritter Schritt: Nach vorn blicken. – Mit welchen Regeln lässt sich schon der Anschein von Willkür und Postenschacher künftig verhindern?

Vertrauen zurückgewinnen

So könnte die Partei wieder Orientierung finden; so ließe sich ein Wertefundament erschaffen, auf dem auch die nächsten Generationen von ÖVP-Politikerinnen und -Politikern aufbauen können. So ließe sich auch für die Wählerinnen und Wähler deutlich sichtbar machen, dass Regeln für alle gelten und dass es sich niemand richten kann, auch nicht mit politischen Kontakten. Und so könnte man mit Gesetzesinitiativen über die eigene Partei hinaus ausstrahlen: Verschärfungen bei der Parteientransparenz, ein Informationsfreiheitsgesetz und klare Regeln für die Inseratenvergabe. Wenn man in der Lage ist, die für alle offensichtlichen Probleme im eigenen Haus zu lösen, wird das Vertrauen zurückkehren, auch existenzielle Fragen auf dieser Welt – Teuerung, Energiekrise – beantworten zu können.

Wenn die ÖVP ihren Kurs nicht ändert, ist die Entwicklung absehbar. Dem Geständnis von Thomas Schmid werden wohl weitere folgen, in der Hoffnung auf eine milde Strafe. Es wird Anklagen geben, jahrelange Prozesse. Ein Kampf aus der Defensive. Auf der juristischen Ebene ist der Ausgang freilich offen, auf der politischen hingegen vorhersehbar: Noch mehr Menschen werden sich von der Politik abwenden. Die Sehnsucht nach parteilosen Kandidaten ist laut einer Umfrage bereits hoch, Anti-Establishment-Kandidaten erhalten Zulauf, und – in Österreich traditionell – es werden Gruppierungen an den Rändern des politischen Spektrums wachsen.

Das alles ließe sich verhindern. Die ÖVP braucht im letzten Moment eine Anti-Korruptions-Strategie – es geht nicht mehr nur um ihre eigene, sondern auch um die Zukunft unseres Landes. (Martin Kotynek, 22.10.2022)