Wahlen? Parlament? Aus Sicht eines Viertels der österreichischen Bevölkerung stark überschätzt. Der jährliche Demokratiemonitor von Sora weist Rekordwerte auf: Jeder neunte Befragte sagte heuer, dass es einen starken Führer geben sollte, der sich eben nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss, weitere 15 Prozent halten das für ziemlich richtig. Klar abgelehnt wird die Idee nur von 46 Prozent.

Aber: Was nach einem Ruf nach einer Diktatur klingt, ist in Wirklichkeit keiner. Denn in derselben Umfrage sagen 87 Prozent, dass die Demokratie "die beste Staatsform ist, auch wenn sie Probleme mit sich bringen mag". Nur jeder 50. Befragte lehnt die Idee der Demokratie als bester Staatsform ab.

In einer Umfrage meinen 87 Prozent der befragten Österreicherinnen und Österreicher, dass die Demokratie "die beste Staatsform ist, auch wenn sie Probleme mit sich bringen mag".
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Das haben also dieselben Personen gesagt. Wie sich der Widerspruch erklärt? Zunächst einmal mit dem Bild, das die Politik bietet – und das von den Medien mit entsprechendem Verstärkereffekt vermittelt wird: Man kann schon den Eindruck bekommen, dass da nur gestritten wird – oft aus Anlässen und über Themen, die die meisten Menschen nicht berühren. Und Streit mag zwar einen gewissen Unterhaltungseffekt haben – insgesamt ist er aber der überwiegend harmoniebedürftigen Bevölkerung zuwider.

Demokratie braucht aber Streit – ein Ringen um die besten Lösungen. Einen Austausch der besten Argumente. Vorgebracht von vorzüglichen Rednern. Das wäre jedenfalls die Idealvorstellung. Wie weit wir – nicht nur in Österreich – von diesem Ideal entfernt sind, kann jeder selbst abschätzen.

Idealvorstellung

Und dann die Umsetzung! Auch da gibt es die Idealvorstellung, dass der jeweils bestmögliche Kompromiss von einer starken Führungspersönlichkeit rasch und effizient zur Wirkung gebracht wird. Die Realität sieht bekanntlich anders aus – mit üblen Folgen: Wenn Verantwortung hin und her geschoben wird, wichtige Entscheidungen aufgeschoben oder nicht durchgesetzt werden, dann verlieren die Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in den Staat und das politische System. Ein Befund, der ebenfalls im Demokratiemonitor abgebildet wird.

Daraus wird besser verständlich, dass sich die Menschen eine solche starke Führung – und ja: auch eine starke Frau oder einen starken Mann – in der Verantwortung wünschen. So in dem Sinn: damit endlich mal was weitergeht.

Das war ja auch die Erfahrung vieler Jahrzehnte: Unter Figl und Raab, unter Klaus und Kreisky gab es wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte, die für einzelne Menschen ebenso wie für das ganze Land spürbar waren. Und die eben den genannten Kanzlern und ihrer Führungskraft zugeordnet wurden.

Demokratie braucht nämlich nicht nur den Streit um die beste Idee, sie braucht auch klare Führung. Der heute vielfach geschmähte Kanzler Sebastian Kurz hat das während des ersten Lockdowns ziemlich klar vorexerziert und dafür hohe Zustimmungswerte erzielt.

Aber das funktioniert nur auf Zeit.

Zur demokratischen Kultur einer repräsentativen Demokratie gehört nämlich auch, dass die Führung regelmäßig hinterfragt und gegebenenfalls abgelöst werden kann. In der Zeit dazwischen ist jedoch der Wunsch nach klarer Führung und Fokussierung auf die Themen, die das Leben der Menschen in diesem Land bestimmen, legitim. Wenn die Regierung das nicht hinbekommt, wird sie 2024 zu Recht abgewählt werden. (Conrad Seidl, 28.11.2022)