Was tun? Diese Frage stellt sich für viele angesichts eines dichten Zeitplans oft gar nicht.

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Für vieles, was uns wichtig wäre, ist in unserem Leben keine Zeit. Gleichzeitig wird der Zeitaufwand für Lohnarbeit kaum infrage gestellt. Teresa Bücker befasst sich in ihrem Buch "Alle_ Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit" mit der Frage, wer und was über unsere Zeit bestimmt und wie wir mehr Autonomie über unsere Zeit gewinnen könnten.

STANDARD: Keine Zeit zu haben, wenig zu schlafen, immer beschäftigt zu sein – das ist inzwischen ein starkes Statussymbol. Warum?

Bücker: Die neoliberalen Gesellschaftsentwürfe vermitteln, dass man nur etwas wert ist, wenn man viel leistet. Dieser Glaubenssatz ist unabhängig vom politischen Spektrum sehr stark. Das ist klar bei der Erwerbsarbeit so, aber dieser Glaubenssatz gilt auch für die Arbeit daneben, in der Freizeit oder beim politischen Engagement. Wir haben ein Arbeitsethos, das weit über die Erwerbsarbeit hinausgeht.

Keine Zeit zu haben ist als Statussymbol auch deshalb so attraktiv, weil es leicht zu erreichen ist. Anders als Statussymbole wie ein Auto oder ein eigenes Haus kostet das nichts. Hinzu kommt heute auch die Logik der sozialen Netzwerke: Auf Instagram hat man sich angewöhnt, dass man das eigene Leben in eine permanente Erzählung einwebt. Das eigene Leben wird als sehr aufregend und voll inszeniert. Wir lernen, so über uns selbst zu erzählen. Denn es gibt diese Furcht davor, als faul zu gelten.

Teresa Bücker ist Publizistin und arbeitet vorwiegend zu Feminismus, Arbeit und Gesellschaft. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des "SZ"-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins "Edition F".
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STANDARD: Dabei ist doch inzwischen klar, wie ungesund Dauerstress ist. Warum hilft dieses Wissen nicht, dass mehr Leute mehr Zeit für sich einfordern?

Bücker: Zum einen begreifen wir Dauerstress als etwas Normales, da wir schon in der Schule an Zeitdruck gewöhnt werden und lernen, dass es gut ist, Dinge schneller zu tun. Als Erwachsene stellen wir daher gar nicht mehr die Frage, ob es nicht auch ohne Zeitstress ginge. Und zum anderen ist es innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsorganisation individuell kaum möglich, sich dieser Zeitkultur zu widersetzen, da Lohnniveau und Konsumkultur vorgeben, viel arbeiten zu müssen. Um dem Dauerstress und der Zeitarmut wirksam etwas entgegenzusetzen, müssen Menschen sich zu vielen organisieren, zum Beispiel über Gewerkschaften oder auch in sozialen Bewegungen.

STANDARD: Sie befassen sich in Ihrem Buch mit Zeitpolitik. Existiert in der Realpolitik so etwas?

Bücker: Den Begriff der Zeitpolitik gibt es schon länger, und er taucht ab und an in politischen Programmen auf, etwa bei den Grünen und auch in Ansätzen bei der SPD. Es gibt in Deutschland auch die Gesellschaft für Zeitpolitik und Menschen, die zu Zeitpolitik forschen. Letztlich hat sich dieser Begriff aber nicht etabliert. Mich hat die Frage interessiert: warum nicht? Meine These ist: weil damit eine große Machtfrage zusammenhängt, die Zeitpolitik stellt. Die Frage, wer hat wie Zugriff auf die eigene freie Zeit, stellt radikal infrage, wie wir leben. Wenn wir diese Frage stellen, bedeutet das auch eine Neuverteilung von Macht und Ressourcen in einer Gesellschaft. Die, die die jetzige Zeitpolitik nicht anfassen wollen, profitieren davon und versuchen, dieses Politikfeld kleinzuhalten.

STANDARD: Welche Zeitpolitik haben wir derzeit, und wer profitiert?

Bücker: Im Kern gibt es gerade keine umfassende Zeitpolitik, denn sie als solche zu benennen würde klar herausstellen, dass Zeit politisch ist und wir jederzeit darüber verhandeln können. Aktuell haben wir vor allem eine Arbeitsmarktpolitik mit zeitpolitischen Aspekten wie beispielsweise Höchstarbeitszeiten oder auch dem Rentenalter. Hieran wird besonders deutlich, dass sich diese Politik vor allem an den typischen männlichen Erwerbsbiografien orientiert, wie sie seit Jahrzehnten existieren: Viele Männer arbeiten ohne Unterbrechungen, um sich um Kinder oder Angehörige zu kümmern, und sie arbeiten in der Regel in Vollzeit. Viele Frauen hingegen arbeiten nicht 40 Jahre lang durch und oft in Teilzeitstellen. Politisch werden sie jedoch als Abweichung markiert, obwohl unsere Gesellschaft aktuell nur so organsiert werden kann: mit der unbezahlten Arbeit der Frauen. Sie verlieren in dieser Zeitkultur. Sie sind arm an Zeit und oft auch an Geld.

STANDARD: Warum ist Zeit ein derartiger Machtfaktor?

Bücker: Zeit ist eine ganz wichtige politische und persönlich Ressource für die eigene Entwicklung – und sie ist sehr ungleich verteilt. Während meiner feministischen Arbeit habe ich mich immer damit beschäftigt, wo die Hebel für Gerechtigkeit sind und wie der Zugang zu finanziellen Ressourcen und Repräsentation gelingt. Geld und Repräsentation sind die dominierenden Machtstrukturen, die Feministinnen identifiziert haben mit. Und ich würde sagen, Zeit kommt noch als dritte Dimension dazu. Das schmälert aber die anderen nicht. Aber Zeit ist eben nicht das Gleiche wie der Zugang zu Geld. Um sich politisch einzubringen, braucht man konkret Zeit. Ebenso im persönlichen Leben, in Familien, in den sozialen Beziehungen. Die Verteilung der Zeit bestimmt, wer wie selbstbestimmt leben kann. Wie haben wir z.B. das große Thema unbezahlte Sorgearbeit und ihre Verteilung in Mann-Frau-Beziehung. Damit werden Frauen auch systematisch aus dem Arbeitsmarkt und aus der existierenden Arbeit hinausgedrängt.

Teresa Bücker, "Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit". € 22,70 / 397 Seiten. Ullstein, 2022
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STANDARD: Wie könnte eine Zeitpolitik aussehen, die Familienarbeit und Zeit für sich selbst fördert?

Bücker: Eine gerechte Zeitpolitik würde eine neue Normalarbeitszeit für alle etablieren: etwa 20 bis 30 Wochenstunden, unabhängig vom Geschlecht. Denn erst dann kann auch die unbezahlte Sorgearbeit fair geteilt werden. Ohne ein neues Verständnis von Vollzeit können wir Gleichberechtigung nicht erreichen. Zudem bräuchte es ein neues Verständnis davon, welche Aufgaben in jeder Gesellschaft wichtig sind und übernommen werden müssen. Denn eine Gesellschaft ist so viel mehr als die Organisation von Erwerbsarbeit. Wir müssen hin zu einem Verständnis, dass Sorgearbeit etwas ist, das uns alle angeht, und niemand zu gut dafür ist. Zudem braucht eine Demokratie Zeit für Engagement und politische Bildung. Frigga Haug hat mit der Vier-in-einem-Perspektive schon vor einigen Jahren ein zeitpolitisches Konzept vorgelegt, das eine gute Diskussionsgrundlage ist.

STANDARD: Warum soll sich der Staat überhaupt darum kümmern, dass wir Zeit für uns selbst haben?

Bücker: Jede Demokratie sieht hoffentlich mehr in den Menschen als Arbeiter:innen. Dann sollte auch jede Person die Möglichkeit bekommen, sich jenseits des Berufs zu entfalten. Der Neoliberalismus hat uns dazu gebracht zu denken, dass wir unsere Leidenschaften am besten im Job ausleben können. Dieses Versprechen löst sich aber nur für wenige Menschen ein. Ein Teil der notwendigen Arbeiten wird immer unangenehm, weniger befriedgend sein. Wenn politisch die Lebensqualität und -zufriedenheit gefördert werden soll, müssen wir über die Erwerbswelt hinausblicken.

STANDARD: Sie selbst haben sowohl Erfahrungen, ihre Zeit, ihr Familienleben und Freizeit neben einer Anstellung zu organisieren, als auch als selbstständige Autorin. Unter welchen Umständen ist leichter, mit Zeit zurechtzukommen?

Bücker: Das das eine gute Frage. Zum einen hat mir die freiberufliche Tätigkeit eher erlaubt, mir die Pausen zu nehmen, die ich brauche. Ich bin kurz vor Beginn der Pandemie in die Freiberuflichkeit gegangen. Wenn ich gemerkt habe, ich bin sehr erschöpft, oder wenn das Baby in der Nacht nicht geschlafen hat, dann habe ich mir tatsächlich den Tag freigenommen. Wenn ich am Schreibtisch sitze und merke, ich prokrastiniere die ganze Zeit – ich habe entdeckt, dass ich das dann mache, wenn ich sehr müde bin –, kann ich mir selbstbestimmter Pausen nehmen. Bei der Festanstellung im Team fühlte ich mich für andere stärker verantwortlich, ich wusste, wenn ich nicht komme, fängt jemand die Arbeit ab. Wir sehen ja auch, dass viele Leute krank zur Arbeit kommen. In vielen Unternehmen ist die Personaldecke dünn, und sobald jemand ausfällt, gehen die anderen in die Überarbeitung. Zu lösen wäre das mit genug Personal, um sich gegenseitig zu vertreten. Dann würden Menschen ja auch mal ganz zu Hause bleiben. Aber ich bin noch immer unentschieden, ob das Freiberuflichsein für mich das Richtige ist, weil mit Kindern und Sorgeverantwortung die Unsicherheit der Freiberuflichkeit auch schwieriger auszuhalten ist.

STANDARD: Also bietet eine Festanstellung doch auch sehr viel Entlastung?

Bücker: Als freie Autorin und Journalistin ist man permanent beim kreativen Arbeiten. Das finde ich in einer Festanstellung entspannter, weil man dann einfach zwischendurch Meetings hat, an denen man einfach nur teilnimmt. Die große Frage, die ich mir immer noch nicht abschließend beantwortet habe, ist: Wie gewähre ich mir als Selbständiger Urlaub? Habe ich auch ein Kontingent von 25 oder 30 Tagen? Dann kann ich nachdenken, ob ich diesen Urlaub auch nehme. Das Risiko, zu wenig Pausen zu machen und in die Selbstausbeutung zu gehen, ist als Freiberuflerin höher. Als Angestellte erinnert mich im Zweifel die Personalabteilung daran, dass ich noch Urlaubstage habe. Wir haben es Gewerkschaften und der Arbeiter:innenbewegung zu verdanken, dass wir bezahlten Urlaub haben. Das ist einer der großen Vorteile am angestellt Arbeiten. (Beate Hausbichler, 22.12.2022)