Hat einen Hype ausgelöst: Jenna Ortega als tanzende Wednesday.

Foto: Netflix

Wednesday auf Netflix gehört aktuell zu den meistgestreamten Serien aller Zeiten auf der Plattform. Zur Coming-of-Age-Geschichte der Addams-Family-Tochter (gespielt von Jenna Ortega) gehört auch eine Tanzszene beim Schulball, die auf der App Tiktok in Form einer Dance-Challenge viral ging.

Kinder, Jugendliche, ein paar Erwachsene und Tiere tanzen dort bezopft und ohne zu zwinkern den beliebten Wednesday-Tanz, wobei der Originalsoundtrack (Goo Goo Muck – The Cramps) mittlerweile fast flächendeckend durch eine schnellere Version von Lady Gagas Bloody Mary ersetzt wurde.

Netflix

Warum aber begeistert Wednesdays "Ausdruckstanz", den Jenna Ortega, inspiriert von Siouxsie Sioux, Bob Fosses Rich Man's Frug, Lisa Loring, Lene Lovich, Denis Lavant und Archivmaterial von Goths aus den Tanzclubs der 1980er-Jahre, selbst choreografiert hat, dermaßen? Was unterscheidet diese Challenge von anderen? Wann gilt ein Tanz als popkulturelle Ikone? Und wie hat Tiktok Choreografien verändert?

All das haben wir die Choreografin und Performerin Joana Tischkau, die sich in ihrer künstlerischen Praxis unter anderem mit populären Unterhaltungsformaten auseinandersetzt, gefragt.

STANDARD: Warum ist der Wednesday-Tanz auf Tiktok so erfolgreich, und was unterscheidet ihn von anderen Tanz-Challenges, die auf Tiktok viral gehen?

Tischkau: Ich denke, weil es dabei nicht nur um die Choreografie geht, sondern auch um die Bildebene: der spezifische Look von Wednesday, der durch die Elemente Zöpfe und dunkle Kleidung leicht nachgestellt werden kann. Andere, sehr beliebte Challenges wie zum Beispiel die Cuff It-Challenge zum gleichnamigen Song von Beyoncé haben dieses ikonografische Element nicht; man erkennt sie nur an den Bewegungen.

Die Wednesday-Challenge.
Fun Space

STANDARD: Was unterscheidet die Wednesday-Challenge noch von der Cuff It-Challenge, die Sie erwähnt haben?

Tischkau: Der Wednesday-Tanz orientiert sich an avantgardistischen, expressionistischen Choreografien, die eher an Martha Graham, Isadora Duncan oder Mary Wigmans Hexentänze denken lassen und weniger an Mainstream-Choreos mit dem sehr körperlichen und formalisierten Bewegungsvokabular, das wir aus Hip-Hop und RnB kennen. Die Goth-Ästhetik ist weniger mit einer konkreten Tanztechnik verknüpft. Die vermeintliche Individualität und Freiheit dieser Ausdrucksform trügen aber. Später wurden die von Graham und Wigman entwickelten Techniken ja auch stark formalisiert und kommerzialisiert.

Die "Cuff It"-Challenge.
TikTok Hype Compilations

STANDARD: Sieht eine junge Generation, die eher mit diesen Mainstream-Pop-Choreografien sozialisiert wurde, also dieses "Ausdruckstanzhafte" vielleicht zum ersten Mal und ist deswegen so begeistert?

Tischkau: Es ist zwar jetzt auch schon fast zehn Jahre her, aber es erinnert mich stark an die Videos, die die Sängerin Sia mit der Tänzerin Maddie Ziegler gedreht hat. Ich glaube also, dass sich diese choreografische Sprache bereits im popkulturellen kollektiven Gedächtnis verankert hat. Warum dieser Tanz so fasziniert, hat vielleicht eher damit zu tun, dass Wednesday in der Serie ja kaum Emotionen zeigt, hier aber plötzlich aus sich herauskommt.

Maddie Ziegler in Sias "Chandelier".
SiaVEVO

STANDARD: Sie sprachen das Thema Körperlichkeit an. Der Wednesday-Tanz will im Gegensatz zu anderen Tänzen, die wir aus der Popkultur kennen, weniger sexy sein.

Tischkau: Es stimmt, dass wir diese Art des Tanzes nicht mit einer sexualisierten Körperlichkeit verbinden, während wir das bei nichtweiß konnotierten Tanzpraktiken eher tun, obwohl wir das ja nicht müssten. Das ist also eine Frage der Rezeption. Mein Eindruck ist aber, dass es ab Folge eins von Wednesday um die erotische Anziehung der Protagonistin zu den beiden weißen männlichen Hauptfiguren Tyler und Xavier geht, obwohl sie immer wieder ihre Abneigung für soziale Bindungen ausdrückt. In der neuen Serie ist Wednesday deutlich älter, als es die Figur in den Filmen der 1990er war, trägt aber trotzdem diese kindlichen Zöpfe, bleibt also äußerlich im Stadium des Kindes. Die Sexualität und Sexualisierung der Wednesday-Figur ist vielleicht nicht so offensichtlich, aber natürlich trotzdem vorhanden.

STANDARD: Auch lange Zeit vor Tiktok gab es Choreografien, die eng mit der Popkultur verknüpft waren und sind. Sei es das Musikvideo zu Michael Jacksons Thriller, sei es die Hebefigur in Dirty Dancing. Was macht diese Tänze so ikonisch?

Tischkau: Grundsätzlich ist Tanz und Körperlichkeit in der westlichen Welt sehr stark mit der Idee von Freiheit verknüpft, denn weiße rationale Männlichkeit bewegt sich nicht. Ich finde es wichtig zu betonen, dass diese Szenen von Tanzpraktiken, die in den Communitys von Schwarzen oder Latinx entstanden sind, geprägt sind. "Crazes" genannte Tanzwellen waren schon immer ein selbstverständlicher Teil der Kultur von Schwarzen und gehen bis zur Zeit von deren Versklavung in den USA zurück. Die Frage ist also, wer sich von diesen Bewegungen anstecken und mitreißen lässt. Diese Tänze liefern weißen Menschen die Möglichkeit, soziale Grenzen zu übertreten, sie sind eine willkommene Abwechslung. Wenn ich zum Beispiel an John Travolta in Saturday Night Fever aus den 1970ern denke: Da geht es ja nicht nur um die ikonisch gewordene Armbewegung, sondern auch um unsere Wahrnehmung von heterosexueller Männlichkeit. In Dirty Dancing geht es um eine jüdische weibliche Hauptfigur, die durch lateinamerikanische Tänze ihr Coming-of-Age erlebt, sich emanizipiert. Solche Dinge mögen zuerst eine untergeordnete Rolle spielen – auch in der neuen Wednesday-Serie wird ja nicht großartig thematisiert, dass die Addams Family People of Color sind, was ja auch gut ist – im Nachhinein betrachtet werden diese Choreografien aber auch deswegen so groß, weil sie uns etwas über Identitäten und ihre gesellschaftliche Positionierungen erzählen, über Weiblichkeit, Sexualität oder Herkunft.

HD Film Tributes

STANDARD: Tänze und Choreografien waren auf Tiktok bereits sehr früh sehr präsent. Was hat die App in diesem Bereich verändert?

Tischkau: Es wurde plötzlich ein Raum geschaffen, in dem Wissen nicht über Sprache oder Text kommuniziert und konsumiert wird, sondern das Material mit dem Körper aufgenommen, durch den Körper verändert und weitergegeben wird. Dieses situierte Wissen ist auch das Innovative für den Tanz. Aus traditioneller tanzwissenschaftlicher Perspektive gab es jahrzehntelang das Problem, dass Tanz nicht hinlänglich notiert werden kann und dass dadurch bestimmte Techniken aussterben, weil sie nicht mehr geübt, trainiert und beigebracht werden. Auf Tiktok findet die Übertragung ständig statt – das ist das Revolutionäre daran.

Joana Tischkau tanzte immer schon in Jugendzentren, Hip-Hop-Clubs und Discos. Formelles Tanztraining erhielt sie an der Coventry University in Großbritannien.
Foto: Daniel Michael Shaw

STANDARD: Die App beeinflusst wohl auch professionelle, klassisch ausgebildete Choreografinnen und Tänzer bei ihrer Arbeit?

Tischkau: Generell findet popkulturelles Vokabular stärker Eingang in klassische Choreografien, in den hochkulturellen Tanz. Allerdings ließ sich das auch schon vor Tiktok beobachten, dass Medien wie Youtube verwendet, anderes Quellenmaterial und Ressourcen herangezogen werden. Das kann natürlich auch problematisch sein, wie die aktuelle Debatte um "kulturelle Aneigung" zeigt. Kulturelle Praktiken und Techniken werden zu kommerziellen und Unterhaltungszwecken entkontextualisiert. Bis der Einfluss von Tiktok auf künstlerische Praktiken sichtbar wird, wird es wohl noch ein paar Jahre dauern.

STANDARD: Sie sprachen Cultural Appropriation an. Die stelle ich mir im Tanzbereich sehr schwer vermeidbar vor.

Tischkau: Ist auch schwierig. Ich denke, dass man den Vorwurf der kulturellen Aneignung umgehen kann, wenn man sich respektvoll und intensiv mit der Herkunft oder der Bedeutung bestimmter kultureller Praktiken beschäftigt beziehungsweise die jeweiligen Szenen in den Produktionsprozess miteinbezieht. Dazu braucht es aber eine gewisse kulturelle Sensibilität, eine Anerkennung und Sprache für nichthochkulturelle, nichtweiße Tänze, Techniken und Choreografien, welche aktuell in der Tanzwissenschaft einfach fehlen, während es sie für Ballett oder postmodernen Tanz bereits gibt. (Amira Ben Saoud, 30.12.2022)