In seinem Gastblog schreibt Christian Kreil über den tragischen Tod eines 14-jährigen Mädchens und die boomende Branche der Esoterikmedizin, die wider alle Evidenz geduldet wird.

Ein Mädchen ist schwer krank, es stirbt ohne Behandlung. Nicht im Kongo, wo es zu wenig ärztliches Personal gibt, sondern in Kärnten, wo es genügend Ärzte und Ärztinnen gibt, aber auch ein breites esoterisches Angebot. Deswegen ermittelt der Staatsanwalt gegen die Eltern des verstorbenen Mädchens. Der Vorwurf: Das Mädchen wäre viel zu spät in evidenzbasierte medizinische Behandlung gebracht worden. Der Anwalt der Eltern argumentiert, dass das 14-jährige Mädchen "aus eigenem Willen" eine medizinische Krebsbehandlung abgelehnt hätte. Die Eltern hätten das Mädchen nur unterstützt bei dessen Wunsch nach einer "alternativen Behandlung".

Wir wissen nicht, welche Art der "alternativen Behandlung" für das Mädchen gewählt wurde, ob unter ärztlicher Aufsicht oder in der Hand eines Energetikers oder Schamanen. Wir wissen nicht, ob eine rechtzeitige und echte medizinische Behandlung das Mädchen gerettet hätte. Aber es hätte eine Chance gegeben. Wer auf "Alternativmedizin" setzt, nimmt sich und seinen Anvertrauten diese Chance im Ernstfall. Dass "Alternativmedizin" in all seinen Spielarten in Apotheken und in Arztpraxen seitens der Kammern geduldet wird, das ist der Skandal hinter dieser Tragödie.

Die Familientragödie rund um das verstorbene Kind hat viele Facetten.
Foto: imago stock&people

Eine Tragödie mit vielen Facetten

Die Familientragödie rund um das verstorbenes Kind hat viele Facetten. Der Anwalt der Eltern ist der ehemalige Vorsitzende der MFG Kärnten, Alexander Todor-Kostic. Ein Plädoyer für wissenschaftliche Medizin ist von dem nunmehr in der Kleinspartei Vision Österreich aktiven Juristen eher nicht zu erwarten. Das ist auch nicht seine Aufgabe als Anwalt. Aber die Eltern haben Todor-Kotic vermutlich nicht zufällig augewählt. Sie trauern um ihr Kind und der Anwalt verteidigt nicht nur sie, sondern vermutlich ein klein wenig auch die "Alternativmedizin", auf die sie vertraut hatten. 

Man wünscht sich, dass jemand Klartext redet

Bleibt zu hoffen, dass der Staatsanwalt mit dem Verteidiger Tacheles redet, etwa so: "Werter Herr Anwalt, wir ermitteln lediglich, ob dem Mädchen medizinische Hilfe verwehrt wurde. Ob die Eltern glauben, dass 'Alternativmedizin' hilft, interessiert uns nicht." Wirklich gesund in diesem Mosaik von Hoffnungen, Versprechen und Irrungen, einem verstorbenen Mädchen, trauernden Eltern, einem Anwalt und dem Gericht ist vermutlich nur die Industrie, die sich gesund stößt an der Naivität, den Sehnsüchten und Hoffnungen der Menschen in der westlichen Welt: die Esoterik und ihre Abteilung "Alternativmedizin". Dieses Esoterikgewerbe ist sehr beredt, wenn es um leere Versprechen geht ("Die Rakete hebt wieder ab"), und sehr still, wenn ihre Opfer für Schlagzeilen sorgen. Wie sollten uns fragen: Wie wird in Österreich von den Verantwortlichen mit "Alternativmedizin" umgegangen?

Verkauft wird nicht nur, was wirkt

Auch heute schieben akademisch gebildete Apothekerinnen und Apotheker Zuckerkugeln über den Tresen als "sanfte Alternative", als "nebenwirkungsfreies Naturheilmittel" oder als "sinnvolle Ergänzung" zu echter Medizin.  Die akademisch gebildeten Damen und Herren im weißen Mantel wissen über die Wirkstoff- und Wirkungslosigkeit des Tands der "Alternativmedizin" Bescheid. Die Apothekerkammer weiß darob Bescheid. Die Apotheken und ihre Kammer wissen aber auch, dass in diesem Spiel nicht alle Bescheid wissen: die Kundinnen und Kunden.

Die öffnen ihre Geldbörsen, weil sie Zuckerkugeln gegen Ohrenschmerzen, anthroposophische Mistelextrakte gegen Krebs und ähnliche Narreteien ernst nehmen, weil: Apotheke, weißer Mantel, Herr Magister, Frau Magister. Die Präsidentin der Apothekerkammer geriet vor zwei Jahren in die Schlagzeilen, weil sie in ihrer Apotheke "informierte Salzlösungen" gegen "Impfnebenwirkungen" feilbot. Im Gespräch erzählen mir Apotheker und Apothekerinnen immer wieder, dass es ein schierer Wahnsinn sei, was in Apotheken, die Seriosität suggerieren, verkauft werden darf, mit zumindest impliziten Heilsversprechen. Aber – und das ist der Tenor: Solang das alles rechtens sei und die Kundinnen und Kunden den Unsinn nachfragen, schieße man sich nicht ins eigene Knie. Notabene: Dass man zum Teil ins Knie der Patientinnen und Patienten schießt und gleichzeitig mit großem Kaliber auf die wissenschaftliche Integrität der eigenen Institution, das macht kaum Kopfzerbrechen. 

Ärzte ohne Schamgrenzen haben eigenes Referat

Auch heute empfehlen Ärztinnen und Ärzte homöopathische Zuckerkugeln gegen ernsthafte Erkrankungen. In der Ärztekammer ist der Arzt Felix Badelt Referent für komplementäre Medizin. Er macht sich auf seiner Webseite für "Ärztlich-Homöopathische Therapie und Bauchatmung in Zeiten von Covid-19" stark. Badelt bewirbt auch die "Bioresonanztherapie nach Franz Morell". Das ist aus mehreren Gründen interessant. 

Morell war war Oberscharführer der SS und hat nach dem Fall seiner Herren recht flott zur Scientology-Sekte gefunden. Er und die Sekte gelten als Begründer der angeblichen Bioresonanztherapie. Bioresonanzgeräte gaukeln mit fantasievollen Namen und technologische Finesse vortäuschendem Design eine Relevanz vor. Wissenschaftliche Evidenz für die Geräte gibt aber nicht. Sie sind zur Diagnose und zur Bekämpfung von Krankheiten nicht besser geeignet als der Trafo einer Modelleisenbahn. Wer in Österreich als Ärztin oder Arzt die Behandlung mit Bioresonanz anbietet, bekommt trotzdem keine Schwierigkeiten. Dem Referat für Komplementärmedizin in der Ärztekammer sei Dank.

Auch die Wirtschaftskammer mischt mit 

Entlarvend: Bioresonanztherapien werden in Österreich sowohl von Ärzten als auch von Energetikern angeboten. Energetiker werden von der Wirtschaftskammer als eigenes Gewerbe geführt. Offiziell dürfen Energetiker nichts anfassen, was auch nur in die Nähe von Medizin oder Pharmazie kommt. In der Realität spielen Energetiker Doktor. Vor zwei Jahren berichtete die Stiftung Gurutest über einen selbsternannten Heiler in Niederösterreich, der Heilung von Krebs in einer selbst gebastelten Kapsel versprach: "Durch die grosse Leistungskapazität der von uns erstellten Therapieprogramme können alle Arten von Krebszellen in jedem Stadium gestoppt werden." 

Die Webseite des selbsternannten Krebsheilers ist nach wie vor online, das Geschäft dürfte laufen. Bei allem Entsetzen über derlei Anmaßungen: Was unterscheidet die Skrupellosigkeit eines selbsternannten Krebsheilers von anthroposophischen Medizinerinnen und Medizinern, die Mistelextrakte zur Bekämpfung von Krebserkrankungen empfehlen?

Krebs angeblich mit Homöopathie heilen

Eine Klinik, die Homöopathie gegen Krebs empfiehlt, gibt es in der Schweiz. "Die Spinedi-Klinik" hat sich mit der angeblichen Behandlung von Krebs mit Homöopathie einen Namen gemacht. Vor einigen Jahren referierte ein Ärztin der Klinik in Österreich zum Thema "Homöopathie bei Krebs". Eingeladen hatte die Ärztegesellschaft für klassische Homöopathie (ÄKH). Die ÄKH kooperiert mit ihren Fortbildungen in Sachen Homöopathie mit der Ärztekammer. Ein Schmankerl bietet die ÄKH im kommenden Oktober an. Ein Präsenzseminar mit André Saine zum Thema: "Unverfälschte Homöopathie bei schweren Erkrankungen". Der Kanadier Saine ist laut ÄKH einer der weltweit besten Homöopathen. Das Curriculum für das fünftägige Seminar sieht unter anderem das vor: "Liveanamnese eines neuen Patienten von Dr. Saine, wahrscheinlich mit einer schweren Pathologie, zum Beispiel Krebs im fortgeschrittenen Stadium." 

Zur Ehrenrettung der Kämmerer sei gesagt, dass sich dort Widerstand regt. Stefan Ferenci, Vizepräsident der Wiener Kammer, teilte vor kurzem mit: „Es braucht ein Referat, das sich kritisch mit pseudowissenschaftlichen Strömungen in der Medizin auseinandersetzt, anstatt eines Referats, das solche Inhalte unkritisch verbreitet.“ Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Es geht ums Prinzip

Globuli gegen Ohrensausen, ein Flacon mit der Essenz des Erzengels Gabriel gegen Prüfungsangst und informierte Salzlösungen mögen vordergründig harmlos sein. Wir sind da noch weit entfernt von Heilversprechen bei schweren Erkrankungen. Ob die junge Kärnterin einer Scharlatanerie zum Opfer gefallen ist, das müssen Gerichte klären, für die Eltern gilt die Unschuldsvermutung. Der Großteil der Pharmazeutinnen und Pharmazeuten und der Ärztinnen und Ärzte arbeiten verantwortungsbewusst. Wir wollen hoffen: Auch wenn sie Alternativmedizin in Form von Globuli, Essenzen, Diagnostik oder Therapien anbieten, ziehen sie vermutlich rechtzeitig die Reißleine, wenn es um schwere Erkrankungen geht. Aber es geht um das Prinzip, und das Prinzip in Österreichs Kammern lautet: Wir schauen nobel über Scharlatanerie in den eigenen Reihen hinweg. (Christian Kreil, 12.5.2023)

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