Der rote Stern ist in "Atomic Heart" omnipräsent.

Foto: Mundfish

Fünfzackige Sterne, rote Fahnen und nicht minder rotes Konfetti säumen die Straße, auf der gerade eine Kompanie aus humanoiden Robotern eine Parade zu Ehren der kommunistischen Partei abhält. Es ist 1955, aber in einer alternativen Realität, in welcher sich die UdSSR durch wissenschaftliche Entdeckungen zu einer utopischen Supermacht gemausert hat, in der alle Einwohner gleichberechtigt sind, Roboter und Menschen Hand in Hand arbeiten und das Großreich bald beginnen wird, fremde Planeten zu kolonisieren.

Das ist "Atomic Heart". Das Erstlingswerk des Newcomer-Studios Mundfish, dessen Wurzeln in Moskau liegen und das von russischen Investoren finanziert wird. Freigegeben ab 18 Jahren, erscheint das Action-Adventure am 21. Februar für etliche Plattformen – Playstation 4/5, Xbox Series X/S, Xbox One, PC – und ist von Tag eins auch in Microsofts Abodienst Xbox Gamepass enthalten. Der STANDARD hat "Atomic Heart" rund zehn Stunden auf der Playstation 5 ausprobiert.

Atomic Heart

Und auch wenn auf technischer Ebene viel Lob für das Spiel ausgesprochen werden kann und es sich spielerisch an den famosen "Bioshock"-Shootern orientiert, so stehen doch die politischen Umstände dieses Games im Vordergrund der Diskussion.

Spielerdaten für den Geheimdienst?

Im Jahr 2017 in Moskau gegründet, ist Mundfish inzwischen nach Zypern übersiedelt, das Team hinter "Atomic Heart" besteht aus 130 Kreativen aus zehn unterschiedlichen Ländern, darunter auch aus Österreich und der Ukraine, wie es auf der Website des Unternehmens heißt. Kontroversen rund zum die russischen Wurzeln des Studios hat es in der jüngeren Vergangenheit jedoch mehr als genug gegeben.

So hatte es in einem Medienbericht geheißen, dass sich die Entwickler den Nutzungsbedingungen zufolge das Recht herausnehmen, Daten über die Spielerinnen und Spieler an die russischen Behörden – darunter den Geheimdienst FSB – weiter zu geben. Der Developer hatte diese Anschuldigungen als falsch bezeichnet, und betont, dass es sich dabei um veraltete Datenschutzbestimmungen handle.

Ein russisches Spiel?

In anderen Punkten geht der Developer auf Tauchstation – etwa, wenn es darum geht, klar Stellung in Bezug auf den Ukrainekrieg zu beziehen. In dieser Hinsicht heißt es lediglich, dass man eben ein internationales Team sei, sich als Pro-Frieden-Organisation verstehe, sich aber nicht zu Themen wie Politik oder Religion äußern werde.

Die russische Presse sieht das anders. Hier wird in Artikeln regelmäßig betont, dass es sich um ein russisches Spiel handle. Für Aufsehen sorgte auch ein in Moskau für russische Gaming-Journalisten abgehaltenes Großevent, in dem Sätze wie "Kamerad, tritt der Gesellschaft der Zukunft bei" fielen.

Doch auch in den USA wird eifrig geworben. So zögerte man nicht, im Vorfeld der Veröffentlichung großflächig Werbung auf dem Times Square zu schalten, in welcher zwischen wilden Schießereien auch diverse UdSSR-Symbole zu sehen sind.

Betont werden muss aber auch: Während die beteiligten Unternehmen sich in Bezug auf den Ukrainekrieg in Schweigen hüllen, setzt Komponist Mick Gordon eine Geste. Gordon wird in der Gamingszene unter anderem für seine mitreißenden Soundtracks der "Doom"-Remakes verehrt, steuerte auch die Musik zu "Atomic Heart" bei und gab kürzlich bekannt, sein Honorar an die ukrainische Division des Roten Kreuzes zu spenden.

Finanzierung für den Krieg?

Für Unmut sorgt aber nicht nur Developer Mundfish, sondern auch die mit ihm verbundenen russischen Investoren. Neben dem chinesischen Mischkonzern Tencent und dem US-Unternehmen Nvidia nennt das Studio hier auch die Namen Gaijin Entertainment und Gem Capital.

In Bezug auf Gem Capital heißt es in einem Artikel des Gamingmediums "Eurogamer", dass dessen Gründer Anatoliy Paliy zuvor für das staatsnahe russische Unternehmen Gazprom gearbeitet habe. Der Release in Russland läuft über das staatlich kontrollierte VKPay – was bedeutet: zumindest die russischen Einnahme kommen direkt dem russischen Staat zugute.

Andere Kritik richtet sich gegen Gaijin Entertainment. Hier hieß es 2021 in einem Artikel der ukrainischen "Kyiv Post", dass das Unternehmen russische Separatisten in der Ukraine finanziere. Von unabhängiger Stelle verifizieren lässt sich diese Information nicht. Es täte den Beteiligten aber auch an dieser Stelle gut, Transparenz zu schaffen. Niemand möchte ein Spiel spielen, wenn auch nur der Hauch einer Wahrscheinlichkeit besteht, dass er damit das Leiden eines anderen Volkes finanziert.

Eine kommunistische Utopie

Doch was steckt nun wirklich in "Atomic Heart" selbst drin? Wie bereits zu Beginn beschrieben, ist dieses Spiel in einer "alternativen Realität" – vergleichbar etwa mit dem Roman, beziehungsweise der Serie "The Man in the High Castle" – angesiedelt. Das Gedankenspiel lautet hier, dass die UdSSR in den 1930ern Entdeckungen macht, die es ihr erlaubt, im Jahr 1955 eine utopische Welt zu erschaffen.

Diese äußert sich unter anderem darin, dass Roboter die Welt der 1950er bevölkern und den Menschen dienen. Die Bevölkerung lebt in Gleichheit und Wohlstand, fremde Planeten sollen durch speziell gezüchtete Pflanzen demnächst kolonisiert werden, und mit einem Update soll es demnächst gar möglich werden, gedanklich mit den Robotern zu verschmelzen und sie so zu steuern.

Schöne neue Welt

Doch dann läuft etwas schief. Die Roboter rebellieren gegen ihre Erschaffer und verwandeln sich in brutale Killermaschinen. Durch den technologischen Zusammenbruch bricht gleichzeitig in den Laboren Chaos aus, und die genetisch manipulierten Pflanzen verwandeln unschuldige Wissenschaftler in blutdurstige Mutanten. Mittendrin steht der Spieler in Form eines Elitesoldaten.

Grafik und Sound wissen in "Atomic Heart" zu beeindrucken.
Foto: Mundfish

Klar ist, dass das Thema der Roboterrebellion keinen Kreativitätspreis gewinnt, die Mutanten ebenfalls nicht. Jedoch hebt sich "Atomic Heart" gerade durch jenen Punkt vom Einheitsbrei des Genres ab, der auch den meisten Raum für Kritik bietet: Das in der alternativen Realität angesetzte Setting ermöglicht sonst noch nie gesehene Darstellungen und Szenen, die osteuropäischen Wurzeln des Teams lassen sich nicht leugnen.

Das äußert sich in kommunistischen Pracht- ebenso wie in hässlichen Plattenbauten. Und auch die Erzählung der Baba Yaga findet eine charmante Neuinterpretation – in Form einer bis an die zähne bewaffneten Senioren, an deren Hausdecke ein Quantencomputer hängt. Man wäre an dieser Stelle versucht, zu sagen: Für Fans der osteuropäischen Kultur und Geschichte ist dieses Spiel ein wahrer Leckerbissen – wäre da nicht die eingangs erwähnte Problematik und die Tatsache, dass das Spiel nach fünf Jahren Entwicklungszeit fast zeitgleich mit dem Jahrestag des Kriegsbeginns erscheint.

Technisch beeindruckend

Dargestellt wird diese Welt in einer technischen Finesse, die ihresgleichen sucht. Das wird gleich zu Beginn eindrucksvoll demonstriert, indem der Protagonist mit einem Boot durch einen Kanal fährt und der Spieler aus der Ich-Perspektive die realistischen Wasserspiegelungen ebenso wie die belebte Welt bewundern kann. Dies setzt sich im Lauf des Spiels in zahlreichen eindrucksvollen Szenen fort, die teils wunderschön, teils erschreckend grauslich sind.

Und auch der Soundtrack muss eine lobende Erwähnung finden. Auch hier zeigen sich die Wurzeln des Teams, indem je nach Situation mal klassische Musikstücke und mal osteuropäische Schlager zu hören sind – was wiederum durch die Werke des "Doom"-Komponisten schlüssig ergänzt wird. Die Musik nervt nie, sie unterhält oft und ist sicher einer der besten Aspekte des Spiels.

Ein sprechender Handschuh

Wie bereits im Vorfeld bekannt, holt sich das Spiel in punkto Gameplay Anleihen bei den erfolgreichen "Bioshock"-Spielen. Was bedeutet: Der Protagonist verfügt für den Kampf gegen Roboter und Mutanten nicht nur über ein breit angelegtes Waffenarsenal, das er stetig aufrüsten kann. Nein, er wird auch von einem sprechende Handschuh begleitet.

Dieser Cyber-Handschuh ermöglicht es dem Spieler unter anderem, Blitze auf die Gegner zu feuern oder sie einzufrieren – vermeintlich magische Fähigkeiten, die sich aber auf Technologie begründen. Auch diese Fähigkeiten lassen sich stets weiter entwickeln, was für Abwechslung im Spielgeschehen sorgt.

Stockendes Gameplay

Ansonsten muss jedoch auch aus rein handwerklicher Sicht Kritik geäußert werden, denn so technisch beeindruckend "Atomic Heart" auch ist, so sehr gibt es auch Probleme im Gameplay. So ist etwa die Tastenbelegung auf dem PS5-Controller nicht immer schlüssig und lässt sich leider auch nicht manuell umstellen.

Und auch wenn die Welt per se beeindruckend ist: Die Missionen sind es nicht immer. So müssen etliche Minirätsel und Geschicklichkeitsspiele gelöst werden, bevor die Handlung ihren weiteren Verlauf nehmen kann. Nicht alle Rätsel ergeben auf den ersten Blick Sinn oder machen Spaß, viele wirken lediglich zeitraubend – was ironischerweise sogar vom Protagonisten selbst kommentiert wird.

Dieser Geselle ist einer von etlichen Widersachern.
Foto: Mundfish

Und zwar gibt es Waypoints, die den Spieler immer zur nächsten Aufgabe führen – tatsächlich stellt sich aber die Frage, ob eine pseudo-offene Spielewelt überhaupt nötig gewesen wäre oder man nicht besser auf weitgehend schlauchartige Levels wie in "Bioshock Infinite" hätte setzen sollen, um nicht mit überflüssigen Nebenschauplätzen von der Haupthandlung abzulenken.

Apropos Haupthandlung: Viele Erläuterungen zur Handlung ebenso wie Erklärungen zu Rätseln finden in Dialogen zwischen dem Protagonisten und seinem Handschuh statt. Werden diese durch ein anderes Ereignis unterbrochen, so hat man als Spieler das Gefühl, unwiederbringlich etwas verpasst zu haben.

Fazit: Es braucht klare Worte

In ihren ersten Tests findet die Fachpresse äußerst lobende Worte für "Atomic Heart". Auf Metacritic, einer Plattform für aggregierte Spielebewertungen, kommt das Game auf 75 von 100 möglichen Punkten, das Medium "Gaming Trend" sieht gar einen Anwärter auf den "Spiel des Jahres"-Titel.

Diesem Lob können wir uns nicht uneingeschränkt anschließen. Denn so schön "Atomic Heart" in handwerklicher Hinsicht ist, so hässlich sind die begleitenden Umstände. Die fiktive Welt mag in ihrer Einzigartigkeit faszinierend sein – doch es bleibt die Frage offen, weshalb man ein Spiel rund um eine utopische Version der UdSSR fast zeitgleich mit dem Jahrestag des realen Kriegsausbruchs veröffentlichen muss.

Diese und viele andere Fragen muss der Developer beantworten. Ansonsten bleibt politisch verantwortungsbewussten Menschen nur die Entscheidung, einen Kauf des Spiels auszuschließen und sich anderen, ebenfalls gelungenen Games zu widmen. (Stefan Mey, 20.2.2023)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Ein Exemplar des Spiels wurde dem STANDARD zu Testzwecken zur Verfügung gestellt.