Kaja Kallas stellte mit über 31.000 Stimmen in ihrem Wahlkreis einen Rekord auf.

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Wahlplakate in Viimsi.

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Tallinn – In dem an Russland grenzenden EU- und Nato-Staat Estland hat die wirtschaftsliberale Reformpartei von Regierungschefin Kaja Kallas die Parlamentswahl klar gewonnen. Nach einem von den Folgen des Ukrainekriegs dominierten Wahlkampf kam die Regierungspartei am Sonntag auf 31,6 Prozent und verbesserte ihr Ergebnis von 2019 (28,9 Prozent). An zweiter Stelle lag die Rechts-außen-Partei Ekre mit 16 Prozent vor der Mitte-links verorteten Zentrumspartei (14,7 Prozent).

Gut 965.000 Wahlberechtigte des 1,3 Millionen zählenden Landes entschieden über die 101 Sitze im Einkammerparlament. Kallas steht seit 2021 – als erste Frau in Estlands Geschichte – an der Regierungsspitze und gilt als eine der resolutesten Unterstützerinnen der Ukraine in Europa. Der Sieg ihrer Partei hatte sich schon vor der Wahl abgezeichnet. Wie es die Umfragen erwarten ließen, dürfte Kallas nun weiterregieren können.

Derzeit Dreierkoalition

Die 45-Jährige führt gegenwärtig eine Dreierkoalition mit den Sozialdemokraten und der konservativen Partei Isamaa an, die beide Mandate einbüßten. Um an der Macht zu bleiben, wird Kallas erneut eine Koalition schmieden müssen. Die bisherigen Regierungsparteien erzielten erneut eine Mehrheit im Parlament – ob Kallas das Bündnis fortführen oder sich neue Koalitionspartner suchen wird, ließ sie zunächst offen. Vorher sollen parteiintern alle Optionen besprochen werden.

Kallas äußerte sich in der Nacht auf Montag erfreut über das Ergebnis. "Es ist viel besser, als wir erwartet haben", sagte sie. Mit Blick auf ihre Ukraine-Politik meinte sie: "Ich denke, mit einem so starken Mandat wird sich daran nichts ändern." Alle anderen Parteien "mit Ausnahme von Ekre und vielleicht des Zentrums" hätten sich für die gleiche Linie mit Blick auf die Ukraine entschieden. "Ich denke daher, dass wir hier eine gemeinsame Basis finden können", fügte Kallas mit Blick auf die anstehenden Koalitionsverhandlungen hinzu.

Das Land müsse in seine Sicherheit investieren. "Unser aggressiver Nachbar ist nicht verschwunden und wird auch nicht verschwinden. Wir müssen also damit umgehen", sagte sie mit Blick auf Russland. Estland stünden zudem größere Reformen unter anderem mit Blick auf den ökologischen Umbau bevor.

Ekre-Chef sieht Wahlbetrug

Zweit- und drittstärkste Kraft wurden zwei Oppositionsparteien: die rechtspopulistische Ekre und die linksgerichtete Zentrumspartei, die jeweils einige Mandate einbüßten. Als größter Stimmengewinner zieht die liberale Partei Estland 200 erstmals ins Parlament ein. Experten halten sogar eine Beteiligung an der Regierung für denkbar.

Ekre-Chef Mart Helme reagierte auf die Ergebnis mit Betrugsvorwürfen. Seiner Partei sei der Wahlsieg "gestohlen" worden. Während der Auszählung der Papierwahlzettel sei seine Partei vorne gelegen, bei der Auszählung der elektronischen Stimmen habe sich das Ergebnis jedoch gedreht. Gut 47 Prozent der Wählerinnen und Wähler gaben bei dieser Wahl ihre Stimmen per Briefwahl oder online ab.

Eines der beherrschenden Themen des Wahlkampfs war Russlands Krieg gegen die Ukraine, der in Estland als direkte Gefahr für die nationale Sicherheit gesehen wird. Das Land teilt eine fast 300 Kilometer lange Grenze mit Russland. Da etwa ein Viertel der Bewohner russischstämmig ist, wurden durch den Krieg heikle gesellschaftliche Debatten neu angefacht – zum Beispiel über Schulunterricht in russischer Sprache und den Umgang mit der eigenen Geschichte und Erinnerungskultur.

Rekord bei digitaler Stimmabgabe

Seit Russlands Angriff hat sich Kallas als entschiedene Befürworterin von EU-Sanktionen gegen Moskau und Waffenlieferungen an die Ukraine profiliert. Unter ihrer Führung hat Estland mehr als ein Prozent seiner Wirtschaftsleistung als Militärhilfe an die Ukraine geleistet und mehr als 60.000 Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Entschieden fordert sie auch eine Stärkung der Nato-Ostflanke.

Bei der Wahl gab es auch wieder die Möglichkeit zur vorzeitigen Stimmabgabe über das Internet, die Estland vor einigen Jahren als erstes Land in Europa eingeführt hat. Vom E-Voting machten diesmal mehr als ein Drittel aller Wahlberechtigten Gebrauch – darunter Staatspräsident Alar Karis. Insgesamt wurden über die Hälfte aller Stimmen digital abgegeben, ein Rekord.

Der estnische Präsident hat nach der Parlamentswahl 14 Tage Zeit, um einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten zu benennen. Dieser hat daraufhin weitere 14 Tage Zeit, um mit einer neu gebildeten Regierung für eine Vertrauensabstimmung vor das Parlament zu treten. (APA, red, 6.3.2023)