Wenn Harry Styles auf dem roten Teppich posiert, wird noch Tage später sein Outfit diskutiert. Harry mit Federboa, Harry in durchsichtiger Bluse und mit Perlohrring auf der Met Gala, Harry im Glitzer-Overall. Und natürlich: Harry im Kleid. Zum ersten Mal in der Geschichte des Magazins zeigte die "Vogue" nur einen Mann auf ihrem Cover. Harry Styles, verspielt mit Rüschenkleid und Luftballon. Es mache Spaß, mit Kleidung zu experimentieren, sagt der britische Popstar, wenn er in Interviews nach seinem extravaganten Stil gefragt wird. Eine Bluse oder einen Rock auszuschließen, nur weil er als "Frauenkleidung" gelabelt werde: für Harry keine Option.

Die Outfits von Harry Styles sind nach jedem Auftritt Thema.
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Styles, der seit dem Ende der Boyband "One Direction" auch solo zu den ganz Großen der Branche zählt, wird als Teil einer neuen Generation von Stars gefeiert, die mit traditioneller Männlichkeit brechen. Statt über Sex, Drugs & Rock 'n' Roll spricht der 29-Jährige in Interviews gerne über die gute Beziehung zu seiner Mutter und wie Psychotherapie ihm dabei geholfen habe, mit seiner Gefühlswelt klarzukommen. Seine Fans feiern auf Konzerten das von Styles ausgegebene Motto "Treat people with kindness", in seiner Band sind mehrheitlich Frauen an den Instrumenten zu sehen, so etwa Drummerin Sarah Jones. Als zu One-Direction-Zeiten ein Journalist danach fragte, ob Frauen für die umschwärmten Jungs in der Band ein "Sport" wären, entgegnete er: "Niemand von uns sieht das so. Das würde heißen, Frauen zu einem Objekt zu machen."

Wo sind die männlichen Männer?

Styles' Performance kommt nicht überall gut an. Als Trump-Unterstützerin Candace Owens angesichts seines "Vogue"-Coverfotos "Bring back manly men!" ("Bringt männliche Männer zurück!") twitterte und gegen Marxismus und "feminisierte Männer" wetterte, antwortete der Musiker mit einem Bild von sich in babyblauem Anzug, im Mund eine Banane. Aussagen wie jene von Candace Owens sieht Männerforscher Christoph May als Teil eines "patriarchalen Abwehrkampfs". "Diese Menschen haben Angst, dass nicht mehr gilt, was sie selbst repräsentieren", sagt May. Männlichkeitsbilder, die Musiker wie Styles liefern, hätten aufgrund ihrer Reichweite eine enorme Wirkmacht, May identifiziert eine ganze Generation junger Künstler:innen, die Geschlecht fluide leben und die großen popkulturellen Einfluss errungen hätten: Billie Eilish etwa, Lizzo, die Body Politics auf die Bühne bringt oder Grammy-Gewinner Lil Nas X, ein schwarzer, US-amerikanischer Rapper, der sich 2019 als schwul outete. "Das ist nicht grundsätzlich neu und revolutionär, aber die Sichtbarkeit ist neu", sagt Christoph May.

Wie im Pop- und Medienbusiness dennoch traditionelle Machstrukturen wirken, belegen nackte Zahlen. Eine Untersuchung der kalifornischen USC Annenberg, die populäre Songs aus den US-Billboard-Charts analysiert, kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. 2022 waren rund 22 Prozent der Chart-Künstler:innen weiblich, unter den Produzent:innen lag der Frauenanteil bei verschwindend geringen 2,8 Prozent. Musiker:innen of Color hingegen befinden sich auf dem Vormarsch. Unter den 1.100 untersuchten Songs zwischen 2012 und 2022 stammten rund 48 Prozent von ihnen, 2022 deutlich mehr als zu Beginn des Zeitraums.

Weiß, hetero, erfolgreich

Dass dennoch unterschiedliche Maßstäbe gelten, kritisierte Billy Porter auch in Hinblick auf das berühmte "Vogue"-Cover. Der schwarze, queere Künstler zeigte sich schon vor Jahren im Kleid auf dem roten Teppich, trat gegen Homofeindlichkeit und Rassismus auf. "Ich musste mein ganzes Leben lang dafür kämpfen, dass ich bei den Oscars ein Kleid tragen kann. Alles, was (Styles) tun muss, ist weiß und heterosexuell zu sein", sagte der Schauspieler und Musiker im Interview mit der Sunday Times. Später entschuldigte er sich in der "Late Show" dafür, Styles persönlich adressiert zu haben. Es gehe nicht um ihn als Person, sondern um "Systeme der Unterdrückung und Auslöschung von Menschen of Color und deren Beitrag zur Kultur".

Billy Porter, mit Kleid bei den Oscars.
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Wer indes nach Stars sucht, die Geschlechtergrenzen – zumindest modisch – ausreizen, wird auch in der Popgeschichte fündig: bei Prince etwa, bei Grace Jones oder David Bowie, die schon vor Jahrzehnten nachfolgende Generationen mit ihren subversiven Gender-Performances inspirierten. 1993 war Nirvana-Frontman Kurt Cobain im Kleid auf dem Cover der Zeitschrift "The Face" zu sehen, ein Star aus der Subkultur, der eng mit der feministischen Riot-Grrrl-Szene verbunden war und Macho-Attitüden stets ablehnte.

Lieber nicht festlegen

Was unterscheidet dann überhaupt die aktuelle Popstar-Generation von ihren Wegbereiter:innen? Bei dieser Frage denkt Kulturwissenschafterin und Queer-Theoretikerin Katja Kauer an ihre eigenen Studierenden. "Viele junge Männer haben heute keine Lust mehr auf das Korsett der traditionellen Männlichkeit", sagt Kauer, die Wissenschafterin nennt sie "Heteromaskulinität". Es ist eine Männlichkeit, die Gefühle negiert, aber auf Dominanz setzt, die möglichst viel Sex mit Frauen zum Ziel erklärt. Zwar würden sie dieses Dominanzgebahren ablehnen, "aber deshalb wollen sie sich nicht gleich ein anderes Label anschaffen", sagt Kauer. Sie definieren sich nicht als heterosexuell, stehen aber trotzdem auf Frauen.

Seine Sexualität mit einem Label zu versehen, lehnt auch Harry Styles ab. Dass er auf Konzerten regelmäßig Pride-Flaggen schwingt und seine sexuelle Identität in Interviews nicht festlegen will, er öffentlich bisher aber nur auf Dates mit Frauen zu sehen war, brachte ihm bereits den Vorwurf des "Queer Baitings", also eines bloßen Marketings, ein.

Ähnliche Vorwürfe trafen Shootingstar Bad Bunny, der mit konsequent spanischsprachigem Latin-Rap und Reggaeton die Szene aufmischt. In einem Genre, das traditionell mit frauenfeindlichen Lyrics auffällt, zeigt der 29-jährige Puerto-Ricaner sich von queerer Mode inspiriert, trägt gerne Nagellack und spricht sich öffentlich gegen Sexismus und Gewalt an Frauen aus. Bei den MTV Video Music Awards 2022 performte er seinen Song "Titi Me Pregunto" und küsste sowohl eine Background-Tänzerin als auch einen -Tänzer. Endgültig festlegen will sich auch Bad Bunny, mit bürgerlichen Namen Benito Antonio Martínez Ocasio, nicht. "Das macht mich nicht aus. Am Ende des Tages weiß ich nicht, ob ich in 20 Jahren einen Mann mögen werde. Das weiß man im Leben nie. Aber im Moment bin ich heterosexuell und ich mag Frauen", sagte er 2020 der "Los Angeles Times".

Auch Billie Eilish gehört zur Generation junger Künstler:innen, die Geschlecht fluide leben.
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Ein solches Nicht-Festlegen ist für Queertheoretikerin Katja Kauer der Weg in die Zukunft. "Ich verstehe Menschen, die sagen: Für den politischen Kampf brauchen wir Labels und Leute, die Flagge zeigen. Als Wissenschafterin sage ich aber: Wir müssen raus aus diesem Glauben an Binarität." Labels zu verwerfen, würde aus dem normierten Denken von Schubladen herausführen, ist Kauer überzeugt. "Queer ist kein Label, sondern eine kritische Position zu Identitätslabeln selbst." Auch eine "neue", aufgeweichte Männlichkeit als queer und nicht normal festzuschreiben, findet Kauer deshalb gefährlich. Das würde schlussendlich Männer in die Bredouille bringen, die sich als traditionell verstehen wollen, sich etwa durch Homophobie und Antigenderismus abzugrenzen und an einer vermeintlich richtigen Männlichkeit festzuhalten.

Weinen ist männlich

Sich verletzlich zu zeigen habe in einer Welt, in der traditionelle Männlichkeit über keine ausdifferenzierte Gefühlssprache verfüge, noch immer radikales Potenzial, sagt indes Männerforscher Christoph May.

"Daniel, Weinen ist sehr männlich", ruft Harry Styles einem zehnjährigen Konzertbesucher zu, wie in einem Mitschnitt auf Youtube zu sehen ist. Die plötzliche Aufmerksamkeit durch den Sänger hat Daniel offenbar überfordert. "Verletzlichkeit ist männlich", sagt Harry.

HarryBestStyles

(Brigitte Theißl, 6.5.2023)