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Eigentlich ist seit Monaten offenkundig, dass Österreich ein massives Inflationsproblem hat. Doch es wirkt ein wenig so, als erfasste die türkis-grüne Regierung erst jetzt die Dringlichkeit und die Tragweite dieses Umstands. Jedenfalls verging diese Woche fast kein Tag ohne neuen Krisengipfel und Ankündigung zur wirtschaftspolitischen Causa prima. Am Montag fand ein ergebnisloses Treffen zwischen Regierungsvertretern und Verantwortlichen aus dem Lebensmittelhandel wegen der hohen Preise in den Supermärkten statt. Am Mittwoch folgte die Verkündigung neuer türkis-grüner Schritte gegen die Teuerung. Am Donnerstag wurden Maßnahmen gegen Kinderarmut in Aussicht gestellt. Am Freitag schließlich gab es eine Sondersitzung des Parlaments. Kleinere Krisengespräche sind in diese Aufzählung noch nicht einmal eingerechnet.

Was ist da los? Warum ist das Problem ausgerechnet in Österreich so virulent? Und vor allem – wie kommen wir runter von der hohen Teuerung? Ein Inflationsdrama in sechs Akten.

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1. Die Ausgangssituation

2,6 Prozentpunkte. Das ist Zahl, die Politikerinnen und Politikern in Österreich ebenso Kopfzerbrechen bereitet wie Wirtschaftsforschern. So hoch ist laut den letzten verfügbaren Daten vom April die Differenz zwischen der durchschnittlichen Teuerung in der Eurozone und jener in Österreich. Hierzulande betrug sie im April 9,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat; im gesamten Euroraum waren es nur sieben Prozent.

Es ist bei weitem kein einmaliger Ausreißer. Bereits seit Jänner, also bald einem halben Jahr, liegt Österreichs Teuerung über jener der Eurozone. Die außerordentlich hohe Inflation bringt Gefahren für Wirtschaft und Gesellschaft. Da wäre zunächst einmal das Problem, dass Verarmung droht, wenn sich die Menschen um ihr Einkommen immer weniger Güter leisten können. Laut der neuesten sogenannten EU-Silc-Erhebung ist seit Beginn der Teuerungskrise die Anzahl jener in Österreich, die besonders von Armut betroffen sind, um circa 40.000 Personen gestiegen, von 160.000 auf 201.000 Menschen.

Dann gibt es die Frage der Wettbewerbs fähigkeit. Weil die Löhne schrittweise mit der Inflation mitwachsen, erhöhen sich für Österreichs Unternehmen die Arbeitskosten – und dadurch kommen sie schwerer gegen die Konkurrenz in Staaten mit niedriger Teuerung an. Gabriel Felbermayr, Chef des Wirtschafts forschungsinstituts (Wifo), warnte kürzlich via Twitter: "Lässt man die Sache laufen, ergeht es uns wie den Südländern der Eurozone nach dem Euro-Beitritt. Damals sind dort die Preise jenen der Nordländer davongelaufen, mit den bekannten desaströsen Folgen."

Es handelt sich bei all dem nicht um ein Problem, dass die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt lösen könnte. Sie ist normalerweise federführend zuständig, die Inflation mittels Erhöhung der Leitzinsen unter Kontrolle zu halten. Ebendiesen Leizins hat die EZB zuletzt auch auf 3,75 Prozent erhöht. Allerdings kommt in Österreich diese Erhöhung offenbar weniger in Form sinkender Preise an als in anderen Staaten.

Das spezifisch österreichische Problem der hohen Inflation erfordert also eine spezifisch österreichische Lösung – abseits der Geldpolitik der EZB. Aber welche?

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2. Die Maßnahmen

Die türkis-grüne Regierung setzte bis vor kurzem vor allem auf eines, um die Inflation zu bekämpfen: die vielzitierte Politik mit der Gießkanne. Vom Klimabonus bis zum erweiterten Heizkostenzuschuss, fast jede und jeder im Land kam in den Genuss irgendeiner Ausgleichszahlung, oft unabhängig von individueller Bedürftigkeit. Die Regierung gleicht also vieles vom Kaufkraftverlust aus, den die Bürgerinnen und Bürger erleiden. Sie bekämpft, sagen Kritikerinnen und Kritiker gern, lediglich die Folgen der Inflation, aber nicht deren Ursachen. Sie solle "bitte aufhören, das Geld hinauszuwerfen", formulierte es am Mittwoch Christoph Badelt, der Chef des Fiskalrats.

Die bisher einzige nennenswerte Ausnahme von der Regel: die sogenannte Strompreisbremse, die mit Jahresbeginn 2023 in Kraft trat. Diese staatliche Subvention setzt tatsächlich bei der Wurzel des Problems an: bei einem Preis, der mittels Staatseingriffs reduziert wird, jenem auf der Stromrechnung.

Doch auch diese Strompreisbremse hat ihre Mängel. Nicht nur, dass sie spät in Kraft gesetzt wurde und Nebenkosten wie Netzgebühren und Mehrwertsteuer außen vor lässt. Auch gilt die Strompreisbremse nur für Elek trizität, nicht aber für andere Energieformen wie Gasheizungen und Fernwärme.

Alles in allem zu spät und zu wenig, kommentieren deshalb die immer zahlreicheren Gegner der türkis-grünen Inflationsbekämpfungspolitik. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner moniert: "Die Einmalzahlungen, Boni und Zuschüsse der Regierung haben die Steuerzahlerinnen viel Geld gekostet, dadurch wurden aber die Preise nicht gesenkt und die Inflation nicht gedämpft."

Was aber liegt als Gegenvorschlag auf dem Tisch? Die Stoßrichtungen sind unterschiedlich. Manche Ökonomen und Politiker fordern, nur jene Menschen zu unterstützen, die tatsächlich bedürftig sind – damit nicht durch immer höhere Hilfszahlungen noch mehr Geld ins System kommt, was die Preise weiter hinauftreibt. Andere betonen eher die Rolle der Unternehmen: Man solle ihnen genauer auf die Finger schauen, ob sie nicht ihre Preise übermäßig erhöhen – und somit auch ihre Profite.

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3. Die Rolle der Unternehmen

Energiekonzerne, Supermarktketten und Restaurants stehen derzeit besonders in der Kritik. Sie sollen mit ihren Gewinnen die Inflation befeuern. Aber tragen sie wirklich wesentliche Mitschuld?

Zur Einschätzung hilft ein Blick auf die Daten. Bei Lebensmitteln ist die Inflation in Österreich nicht stärker als im restlichen Euroraum. Sie beträgt laut Sebastian Koch, Ökonom beim Institut für Höhere Studien (IHS), rund 15 Prozent. Das ist zwar ordentlich viel; die Menschen spüren schmerzhaft die stark gestiegenen Supermarktpreise. Aber – die Teuerung liegt ungefähr im EU-Schnitt.

Anders bei Energie. Sie stieg laut Koch ab vergangenem September zu einem der Haupttreiber der Inflation auf, nachdem mehrere Energiekonzerne ihre Tarife erhöht hatten. Dies geschah ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die Energiepreise im Großhandel – also an jenen Börsen, an denen die Energieversorger ihre Energie einkaufen, um sie an Endkunden weiterzureichen – wieder zu sinken begannen. Warum? Das Missverhältnis zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis liegt unter anderen daran, dass die meisten Energiekunden in Österreich mit langfristigen Verträgen ausgestattet sind, in denen die Preise fixiert sind, etwa auf ein Jahr. Sinkende Großhandelspreise kommen aus diesem Grund erst nach längerer Zeit bei Endkundinnen und -kunden an.

Das IHS jedenfalls hat Bereiche erhoben, bei denen die Preissprünge besonders extrem sind. Platz eins und zwei: die Fernwärme und das Gas. Sie allein sind gemeinsam für ungefähr einen Prozentpunkt an Österreichs hoher Inflationsrate von derzeit 9,2 Prozent verantwortlich. Dahinter folgen die Mieten. Wiewohl etwas weiter hinten im Ranking gelegen, sind schließlich auch die Restaurants nicht zu verachten: Das Glas Wein im Gasthaus beispielsweise hat sich innerhalb eines Jahres derart verteuert, dass es ganze 0,15 Prozentpunkte der österreichischen Inflationsrate von 9,2 Prozent erklärt. Durch das Schnitzel im Restaurant kommen nochmals 0,07 Prozentpunkte hinzu. Genauso viel wie durch den Cocktail an der Bar.

4. Die Wende

Dieses Thema nimmt die Koalition nun stärker in den Blick. Mehr Preistransparenz soll beim Einkaufen herrschen; sinkende Kosten im Energiebereich stärker an Kunden weitergegeben werden. In der Inflations politik zeichnet sich eine Wende ab. Der Zugang, mit dem Türkis-Grün die Teuerung bekämpfen will, hat sich binnen weniger Wochen gedreht.

Alles begann Mitte April mit einem Vorstoß des Konsumentenschutzministers Johannes Rauch (Grüne). Er übte scharfe Kritik an den Handelsketten, bei denen Preissteigerungen "nicht nachvollziehbar" seien. Rauch bestellte Handelsvertreter zum Krisengespräch ein. Dieses endet zwar am vergangenen Montag ergebnislos, aber es sollte nicht der letzte Schritt dieser Art sein.

Zuvor war der Druck auf die Regierung größer geworden. Einflussreiche Ökonomen wie Wifo-Chef Gabriel Felbermayr hatten vor dem Ernst der Lage gewarnt; alarmistische Schlagzeilen in der Kronen Zeitung taten ihr Übriges.

Mitte dieser Woche dann führten Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) der Öffentlichkeit ihre neuentdeckte Entschlossenheit vor. Im Supermarktsektor soll mehr Preistransparenz herrschen, etwa durch ein regelmäßiges Monitoring von Preisen. Weiters wird über ein strengeres Wettbewerbsrecht nachgedacht. Dazu kommt der vielleicht wichtigste Punkt: Die Energiekonzerne sind aufgefordert, ihre Tarife zu senken. Falls nicht, drohen Nehammer und Kogler mit einer Erhöhung der sogenannten Übergewinnsteuer auf die Profite dieser Konzerne ab Juni. Diese Steuer wurde auf EU-Ebene bereits vergangenen Oktober eingeführt, in Österreich jedoch lediglich in milder Form realisiert. Jetzt soll sie strikter werden.

Wer sich jedoch die Pläne genauer ansieht, stellt fest, dass sie äußerst vage geblieben sind. Bislang handelt es sich um kaum mehr als Überschriften. Offensichtlich konnten sich die Koalitionspartner gerade einmal auf paar grundlegenden Linien verständigen – wohl auch wegen des Zeitdrucks.

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5. Die politische Strategie

Aber warum bestand überhaupt Zeitdruck? Immerhin ist das Problem der hohen Inflation in Österreich seit Monaten bekannt; überdies liegt jede Menge Expertise zu dessen Bewältigung auf dem Tisch.

Das Vorgehen der Bundesregierung, um die Inflation besser in den Griff zu bekommen und den Schaden für Bevölkerung und Wirtschaft zu begrenzen, verrät auch viel über den Zustand der Koalition. Türkis und Grün entwarfen ihre diesbezüglichen Kommunikationspläne jeweils auf eigene Faust, um sich letztlich doch noch zusammenzuraufen, trotz allen gegenseitigen Misstrauens.

Nach außen hin wird Betriebsamkeit vermittelt – fast erinnern die Regierungsauftritte gegen die Inflation an die Zeit der Lockdown-Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Im Hintergrund wird von einer in letzter Minute abgewendeten tiefen Koalitionskrise berichtet. Der Lebensmittelgipfel-Vorstoß Rauchs soll in der ÖVP zu schwerer Verstimmung geführt haben. Um Schlimmeres abzuwenden, hätten vergangenes Wochenende in beiden Parteispitzen die Handys geglüht. Der Konflikt sei auch der Ergebnislosigkeit von Johannes Rauchs Gipfel am Montag geschuldet gewesen. Türkis habe sich an den Vor gesprächen mit Handelskonzernvertretern nicht beteiligt – und auf grünen Druck allein sei von selbigen nicht mehr zu bekommen gewesen als heiße Luft.

Jedenfalls ist beim eiligen Krisenmanagement, das gar nicht eilig sein müsste, derzeit noch kein Ende absehbar: Am Donnerstagabend ließ Nehammer via Pressaussendung wissen, dass mit dem Regierungspartner intensiv an Schritte gegen die Kinderarmut gearbeitet werde, die man kommende Woche vorstellen wolle. Das Gleiche war bereits am Donnerstagvormittag aus dem Büro von Rauch (Grüne) zu erfahren gewesen.

6. Die nahe Zukunft

Was aber kann die neue türkis-grüne Inflationspolitik wirklich ausrichten? "Die vorgestellten Maßnahmen gehen im Grunde in die richtige Richtung", urteilt der Ökonom und IHS-Chef Klaus Neusser. "Aber keine von ihnen wird wesentlich zu einer schnellen Entspannung beitragen."

Die außerordentlich hohe Inflation wird Österreich also wohl vorerst erhalten bleiben. Der Internationale Währungsfonds (IWF) etwa prognostiziert für heuer, dass sie in Österreich 8,2 Prozent betragen wird – in der gesamten Eurozone hingegen nur 5,6 Prozent.

Faktoren wie mehr Preistransparenz und ein strengeres Wettbewerbsrecht, wie sie nun beschlossen wurden, sehe er zwar grundsätzlich positiv, sagt Neusser. Auch der Druck auf die Energiekonzerne könne durchaus dazu führen, dass sie reagieren und ihre Preise senken. Allerdings rechnet er nicht mit schnellen durchschlagenden Effekten. "Bis all das wirkt, das dauert schlicht eine Weile."

"Und nicht zuletzt", sagt der Ökonom, "hätte man all das auch schon vor einem halben Jahr machen können." (Joseph Gepp, Irene Brickner, 13.5.2023)