Robert Stadler aus Athen

Kyriakos Mitsotakis, griechischer Regierungschef und Vorsitzender der konservativen Nea Dimokratia, blickt der anstehenden Neuwahl gelassen entgegen.
Kyriakos Mitsotakis, griechischer Regierungschef und Vorsitzender der konservativen Nea Dimokratia, blickt der anstehenden Neuwahl gelassen entgegen.
IMAGO/ANE Edition

Für keine der Parlamentsfraktionen in Griechenland ist Konsens so etwas wie das Objekt der Begierde. Schon kurz nach Bekanntwerden des in dieser Höhe unerwarteten Triumphes der konservativen Nea Dimokratia (ND) bei der ersten Wahl am 21. Mai machten alle Parteichefs deutlich: Regierungsverhandlungen sind sinn- und zwecklos. Konsequenz: Parlamentswahlen Nummer zwei innerhalb von fünf Wochen. Termin: 25. Juni. "So wie es im Moment aussieht, wünschen sich die meisten Parteien wohl insgeheim einen klaren Erfolg der Konservativen", sagt der 39-jährige Buchhalter Mimis und bringt die Gemengelage damit auf den Punkt. "Koalieren will ohnedies keiner."

Konservativ ist im Aufwind. Die Kluft zum Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) scheint sich sogar noch zu vertiefen. Darauf deuten mehrere Umfragen hin, die die Differenz zwischen den beiden Hauptkonkurrenten auf bis zu 25 Prozentpunkte beziffern.

ND-Chef Kyriakos Mitsotakis kann sich den Bürgerinnen und Bürgern mit einem Lächeln präsentieren. Dieses fror dem ehemaligen Politstar und Syriza-Chef Alexis Tsipras als Folge der kalten Wahldusche ein. Die mageren 20,07 Prozent (2019: 31,53 Prozent) waren ein "schmerzhafter Schock". Der Linken gingen seit 2019 an die 700.000 Stimmen verloren. Tsipras ist nicht mehr in Mode, wie es ein Kommentator spitz formulierte.

Instabile Politlandschaft

In der griechischen Politlandschaft sind tektonische Verschiebungen im Gange. Der Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009/2010 wirbelte das System durcheinander. Parteien kollabierten, wurden geboren und verschwanden wieder. Nach mehr als einem Jahrzehnt regiert nun wieder eine gewisse Normalität. Und krisengezeugte Geschöpfe wie Syriza zahlen die Rechnung. Für den Analysten des Meinungsforschungsinstituts Public Issue Jannis Mavris ist klar: Nach elf Jahren fiel die Attraktivität von Syriza bei der Wählerschaft "wieder auf das Niveau vom Mai 2012, als ihr rasanter Aufschwung einsetzte".

Unter einem guten Stern stehen die Wahlkämpfe in Hellas jedenfalls nicht. Drei Monate vor dem Urnengang im Mai ereignete sich ein schweres Zugunglück im Tempe-Tal, bei dem 57 Menschen starben. Vor wenigen Tagen verhängte die Interimsregierung nach der Flüchtlingstragödie vor der Peloponnes mit wahrscheinlich hunderten Toten eine dreitägige Staatstrauer. Sie war der schreckliche Anlass dafür, dass in Hellas die Debatte über die Migrationspolitik neu entflammte.

Zugunglück im Februar

Eine zentrale Verantwortung wird den in den vergangenen vier Jahren regierenden Konservativen aber mehrheitlich nicht angelastet – weder in diesem noch in anderen Punkten. Ein Beispiel: Der ehemalige Transportminister, der im Zusammenhang mit dem Zugunglück im Februar zurücktrat, erhielt in seinem nordgriechischen Wahlkreis die meisten Vorzugsstimmen.

Auch andere Themen, bei denen Mitsotakis ins Schussfeld der Kritik geriet, rangieren in der Kriterienliste für eine Stimmabgabe unter "ferner liefen" – ob es sich jetzt um Pushback-Vorwürfe, eine Abhöraffäre, bei der Politiker und Journalisten observiert wurden, oder mangelnde Transparenz bei der Medienförderung handelt.

Der bisherige Premier setzt am Sonntag also alles auf eine Karte. Mit einer absoluten Mehrheit will er das Land für weitere vier Jahre regieren. Das neue Wahlrecht hilft ihm dabei. Es beschert der stimmenstärksten Partei einen Bonus von bis zu 50 Mandaten im 300-sitzigen Parlament. Dafür braucht die ND etwa 38 bis 39 Prozent. Beim Urnengang im Mai, als noch das einfache Verhältniswahlrecht galt, schaffte sie bereits 40,8 Prozent.

Keine Lust auf Abenteuer

Tsipras scheint mit seinen Menetekeln zum drohenden "ND-Regime" nicht den Nerv zu treffen: Nur eine starke Syriza, wettert er, "und nicht eine fragmentierte, in sich zerstrittene Opposition kann die rechte Allmacht verhindern". Für die Bürgerinnen und Bürger aber ist das angebliche Dilemma zwischen Alleinregierung und übermächtiger Alleinregierung nicht existent.

Sie haben offenbar wenig Lust auf Abenteuer, wollen eine Regierung und keine dritten Wahlen im August. Wie sagte der legendäre Sozialistenchef Andreas Papandreou in den 1980er-Jahren, als Mitarbeiter ihm einen Wahlgang mitten im Sommer empfahlen? "Wir können doch dem Volk nicht seine Badefreuden verderben!" Wie es aussieht, dürfte es nicht dazu kommen. (Robert Stadler aus Athen, 24.6.2023)