Es gibt eine Kennzahl, die fast alles über Österreichs Schulwesen aussagt: 2016 beschlossen alle im Nationalrat vertretenen Parteien einstimmig den Ausbau der Ganztagsschulen. Im Jahr 2023 beträgt die Ganztagsschulquote in Österreich fünf Prozent. Sieben Jahre, in denen kaum etwas passiert ist. Sieben Jahre, in denen verabsäumt wurde, Schulgebäude zu adaptieren, Personal zu rekrutieren, Lehrpläne umzustellen, Kindern ein anregendes und unterstützendes Lernumfeld zu bieten.

Die Agentur Kovar & Partners hat dieses bildungspolitische Detail ausgegraben, um die Kernaussage ihrer "Arena Analyse" für das heurige Jahr zu untermauern: "Chancen sind in Sicht" – man muss sie nur nutzen. Bei dieser Analyse werden Jahr für Jahr dutzende Expertinnen und Experten befragt, welches ihrer Meinung nach die wichtigsten aufkommenden Themen für die Gesellschaft sind, DER STANDARD ist Kooperationspartner. Jahr für Jahr nimmt das Thema Bildungsreform einen wichtigen Platz ein. Jahr für Jahr ernten diese Befunde breite öffentliche Zustimmung, der Effekt ist – siehe Ganztagsschule.

Große Änderungen im Schulwesen sucht man vergebens – leider.
APA/EVA MANHART

Hätte es einen idealen Zeitpunkt gegeben, Österreichs Schulwesen von Grund auf umzukrempeln, wäre dies wohl in der Pandemie oder kurz danach gewesen. Selten war für alle Betroffenen klarer ersichtlich, welchen Kindern es trotz allem gut oder zumindest besser erging – und wer auf der Strecke blieb. Hätte man alle Bedenken und Bedenkenträger beiseitegeschoben und sich auf jenes Bild fokussiert, das sich in dieser Zeit darbot, hätte man gesehen: Kinder brauchen engagierte Lehrer, ein förderndes Umfeld, Menschen, die Zeit und Kapazität haben, sich zu kümmern – um jede und jeden Einzelnen. Dann funktioniert Schule sogar auf digitalem Wege.

Dies erkennend, hätte die größte Schulreform der Zweiten Republik starten müssen. Bund und Länder hätten föderale Unsinnigkeiten und bürokratische Mühsamkeiten beenden müssen. Man hätte, mit den Sozialpartnern, Lehrpläne entrümpeln, um neue Inhalte und viel digitale Kompetenzlehre erweitern und auch die Lehrerentlohnung umbauen können. Schulen hätten mehr Autonomie und mehr frei verfügbares Geld bekommen sollen. Man hätte die Konkurrenz unter den Schulstandorten um die besten inhaltlichen Schwerpunkte, die engagiertesten Lehrkräfte und die besten Schulabschlüsse stärken müssen, begleitet von einem Monitoringsystem, um eingreifen zu können, wenn eine Schule gar nicht funktioniert. Niemand behauptet, all dies wäre einfach gewesen. Aber wir hätten damit anfangen müssen.

Stattdessen hat man Kinder, Lehrer, Eltern in ihrer Post-Pandemie-Erschöpfung weiterwursteln lassen wie bisher – mit erheblichen Kollateralschäden. Nie zuvor hatten so viele Kinder und Jugendliche schwere psychische Probleme. Was das für die Drop-out-Quoten der kommenden Jahre bedeutet, lässt sich kaum abschätzen. Das Schulsystem insgesamt leidet nicht nur unter der aktuellen Pensionierungswelle und dem daraus resultierenden Personalmangel. Es leidet auch daran, dass der Lehrerinnen-Nachwuchs schon nach kurzer Zeit frustriert aufgibt.

Österreichs Schulwesen ist eine ewige Baustelle – aber es gäbe schon die nächste Möglichkeit, in ihr mächtig umzugraben. Der Finanzausgleich wird heuer verhandelt. Bildung war leider bis jetzt kaum ein Thema, nur das Gesundheitswesen. Das ist die andere große Baustelle. (Petra Stuiber, 29.6.2023)