Color-Blocking: Alle Beteiligten treten mit krass bunten Perücken und Hosen auf – die Brust bleibt als Statement frei. Ein Experiment mit der Klangpoesie des Atems.
Color-Blocking: Alle Beteiligten treten mit krass bunten Perücken und Hosen auf – die Brust bleibt als Statement frei. Ein Experiment mit der Klangpoesie des Atems.
Sylvie Ann Pare

Die sieben Tänzerinnen und drei Tänzer in Marie Chouinards neuem Stück « M » tragen allesamt Perücken und Hosen in Signalfarben. Orange, pink, gelb und violett, wie mit Markierstiften koloriert. Alle zehn treten mit nackten Oberkörpern auf und experimentieren mit einer virtuosen Klangpoesie des Atems.

Beim Impulstanz-Publikum der Österreich-Premiere im ausverkauften Volkstheater hat « M » großen Applaus abgeräumt. Zu Recht, denn Chouinards Ensemble tanzt so ausgezeichnet wie auch in früheren Arbeiten der kanadischen Starchoreografin. Das Stück hat Witz und Kraft, und es bleibt schlüssig bis zum letzten Moment.

Das erfreut auch deshalb, weil Marie Chouinard bereits gezeigt hat, dass sie auch am Rand des Kitschs entlangtanzen kann. Jetzt keine Spur davon. Was mit einem Quartett des lässigen Daliegens im Geräuschraum eines sanften Regens beginnt, wird zum musikalischen und tänzerischen Spiel mit intonierten Atemgeräuschen, die über ein Mikrofon aufgenommen und als rhythmische Sequenzen abgespielt werden.

Aber bei « M » wird nicht nur mit Tanz und Sound gespielt, sondern bewusst mit Farben. Immer wieder changieren die Lichtsituationen und damit die emotionalen Impulse. Im Tanz spielt bekanntlich das richtige Atmen eine wesentliche Rolle. Chouinard führt die Atemtechnik über ihren praktischen Nutzen hinaus und komponiert so die Bewegungen ihres Ensembles.

Damit mischt sie der Choreografie ein "spirografisches" Element hinzu, das sich beim Tanz mit nackten Oberkörpern viel deutlicher visualisieren lässt, als es bekleidete Torsi erlauben. Doch der Verzicht auf Kleidung hat vor allem – auch hier – emanzipatorische Aspekte. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war Nacktheit im Tanz oft von der Idee der sexuellen Befreiung geprägt, wurde aber auch spekulativ eingesetzt.

Von Nacktheit und Schönheit

Seit dem großen Umbruch im Tanz zur Jahrtausendwende ist das vorbei. Seither ist Nacktheit ein kritisches Statement etwa gegen die wirtschaftliche Ausbeutung des Körpers (Jérôme Bel) oder gegen kulturelle Normierung wie bei Doris Uhlich, für die jeder nackte Körper den gleichen ästhetischen Wert hat. Und Florentina Holzingers Performerinnen treten aus emanzipatorischen Gründen gänzlich nackt auf.

Vielen ist diese politische Wende noch nicht ganz bewusst, wie Kommentare zur Nacktheit in künstlerischen Zusammenhängen beweisen, die das immer noch weit verbreitet verkrampfte Verhältnis zur Körperlichkeit verdeutlichen. Marie Chouinards Tänzerinnen und Tänzer bleiben in ihrer Wirkung nahe an gängigen Schönheitsvorstellungen. Auch darin liegt ein emanzipatorisches Statement: Werden doch gerade als "schön" gesehene Frauen häufig zum Ziel misogyner Brutalität. (Helmut Ploebst, 13.7.2023)