Deutschland ist nicht mehr die Säule der politischen und wirtschaftlichen Stabilität in der Europäischen Union. Die AfD, eine Partei, die das Bundesamt für Verfassungsschutz im letzten Jahresbericht als "rechtsextremistischen Verdachtsfall" bezeichnet hat, würde jetzt bei einer Bundestagswahl rund 20 Prozent der Stimmen bekommen. Damit überholt sie die SPD und verdoppelt fast ihren Stimmenanteil seit der letzten Bundestagswahl im September 2021. In einigen ostdeutschen Ländern wäre sie schon die stimmenstärkste Partei. Bei dem Parteitag am Wochenende in Magdeburg präsentierte sich die AfD als eine durch und durch nationalistische Partei, die Deutschland aus der EU führen, den Euro abschaffen und eine "Festung Europa" bauen will.

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Spürt Aufwind: die AfD. Bei einer Versammlung in Magdeburg besetzen die Delegierten die Kandidatenliste für die Europawahl.
APA/AFP/RONNY HARTMANN

Die Streitigkeiten in der Ampelkoalition der SPD, Grünen und der FDP über die Wirtschafts- und Energiepolitik haben zweifellos günstige Bedingungen für den Aufstieg der Rechtspopulisten geschaffen. Es gibt aber auch andere Gründe für Beunruhigung. Die Wirtschaft schrumpft, die Aussichten sind schlecht, und die Experten warnen vor wachsenden Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Staatsschulden. Moritz Schularick, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, ruft in der FAZ sogar zur Bewusstseinsänderung auf: Deutschland müsse weg vom Gefühl, der starke Mann Europas zu sein, der es lange war, und erkennen, dass es wider ein kranker Mann sei.

Die Frage über den Umgang mit der AfD löste wegen einer unglücklichen Formulierung durch den CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz eine Debatte über seine Führungskompetenz und die Chancen des um 20 Jahre jüngeren Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, als Kanzlerkandidat aus. Die Aussage von Merz, die Grünen seien "ab sofort der Hauptgegner" der CDU in der Bundesregierung, hat viele Parteifreunde verblüfft, zumal die CDU in sechs Ländern mit den Grünen zusammenregiert. Er rückte kürzlich auch von seiner 2019 gemachten Aussage ab, er traue sich zu, als CDU-Chef die Wählerschaft der AfD halbieren zu können. Die Tatsache, dass nicht die CDU-CSU, sondern in erster Linie die AfD aus der Unzufriedenheit mit der Ampelregierung profitiert, verleiht den Zweifeln über Merz’ Eignung als Kanzler einen neuen Auftrieb.

Bei der Betrachtung der politischen Lage in Deutschland darf man auch die potenzielle Wirkung der AfD-Kampagne für das Ende der Sanktionen und für Friedensverhandlungen mit Russland nicht vergessen. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bekräftigte kürzlich seine Warnungen, dass die AfD in Teilen sehr stark von Moskau beeinflusst werde. Als symbolträchtige Geste war AfD-Chef Tino Chrupalla zum Tag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai sogar bei einem Empfang in der russischen Botschaft gewesen.

Das österreichische Beispiel übrigens zeigt, wer die Sprüche der Rechtspopulisten wiederholt, treibt ihr nur Wähler zu. Die Warnung "Wehret den Anfängen" gilt, aber sie reicht nicht aus. Man muss mit Argumenten offensiv die Behauptungen der Demokratieverächter zerpflücken und die Menschen überzeugen, dass sie das Erreichte nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen. (Paul Lendvai, 31.7.2023)