Was würden Sie tun? Nehmen wir an, Sie arbeiten in einem Unternehmen und leiten eine Abteilung. Ihr Vertrag als Führungskraft läuft in einem Jahr aus und müsste von Ihrer Chefin verlängert werden. Mehrere Kollegen hoffen, Ihren Job übernehmen zu können. Betriebsintern ist es ein offenes Geheimnis, dass Teile des Unternehmens in die Jahre gekommen sind und dringend "zukunftsfit" werden müssen. Die Chefin gilt allerdings als veränderungsresistent. Sie wissen, dass auch Ihre Abteilung einen neuen Kurs einschlagen muss, damit der Betrieb auf lange Sicht marktfähig bleibt; Sie müssten sich dafür aber mit Ihrer Chefin anlegen – kurz vor der Vertragsverlängerung.

Würden Sie Reformen anstoßen? Auf die Gefahr hin, Ihrer Vorgesetzten auf die Füße zu treten? Oder wären Sie eher Team mutlos?

Wieviele Reformen gehen sich in ihrer Amtsperiode noch aus? Bundeskanzler Karl Nehammer (re.) und Vizekanzler Werner Kogler (li.).
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Die meisten Politikerinnen und Politiker wissen, dass es in Österreich weitreichenden Reformbedarf gibt – und befinden sich in einer nicht unähnlichen Situation. Je nach Thema ist die Politik mit verschiedenen Interessengruppen und Wählerschichten konfrontiert, die Veränderungen (vermeintlich) nicht wollen – wie die Chefin im Beispiel. Es gibt Konkurrenten, die nur darauf warten, den Job der Regierenden zu übernehmen. Und ständig droht die Nicht-Verlängerung bei der kommenden Wahl.

Das Problem ist: Innerhalb des politischen Systems wird Mutlosigkeit befördert und im Zweifel belohnt. Echte Reformen brauchen Zeit und entfalten ihre Wirkung oft erst nach vielen Jahren – wenn die Entscheidungsträger von einst nicht mehr im Amt sind. Und selbst wenn die Mehrheit die Reformen will, sind die Gegner fast immer besser organisiert. Viel lohnender ist es aus Sicht der Regierenden deshalb, Geld für kurzfristige Hilfe in die Hand zu nehmen (rächt sich erst später), belanglose und gleichzeitig hochemotionale Debatten anzustoßen (etwa übers Bargeld), die eigene Wählerklientel zu befrieden und relevanten Zielgruppen nicht auf die Füße zu treten. Mühevoll gesäte Lorbeeren könnte man vermutlich ohnehin nicht selbst ernten.

Beispielhaft ist das Gesundheitswesen: Ärztinnen fehlen, Spitäler sind überlastet, Jungmediziner wandern ab – jeder weiß, dass es in diesem Bereich so viele Baustellen gibt, dass nur eine Großoffensive hilft. Mit einer weitreichenden Reform rechnet dennoch niemand. Dafür müsste die Politik Player wie die Bundesländer "vergrämen, was man nicht möchte", wie die ehemalige ÖVP-Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky in der ZiB 2 diese Woche luzide analysierte.

Ähnliches gilt für: eine Bildungsreform, eine Pensionsreform; die gleiche Problemstellung verhindert weitreichende internationale Maßnahmen gegen die Erderhitzung.

Es ist ein Dilemma: Natürlich müssen Legislaturperioden enden und Parteien abgewählt werden können – das ist der Kern unserer Demokratie. Gleichzeitig lähmt die Angst vor der Abwahl die Politik und treibt zu unvernünftigen, scheinpopulären Handlungen an. Mutlosigkeit ist zum politischen Prinzip geworden.

Das Resultat ist, dass erst dann etwas getan wird, wenn es brennt – und eigentlich zu spät ist. Oder wie Kdolsky es formulierte: Wenn Menschen irgendwann nicht mehr rechtzeitig behandelt werden können, "vielleicht kommt es dann zu einem Umdenken".

Bis dahin gibt es nur eine Antwort darauf: informierte und mündige Wähler. (Katharina Mittelstaedt, 5.8.2023)